Fundstück: The Ones Who Walk Away from Omelas

(Foto: Johanna Jendrysek)

In ihrer Kurzgeschichte The Ones Who Walk Away from Omelas kreiert Ursula K. Le Guin ein spannendes Gedankenexperiment: Der märchenhafte Ort Omelas liegt zwischen den Bergen und nahe am Meer. Er scheint der Ort des materialisierten Glücks zu sein und wird ausschließlich von zufriedenen Menschen bewohnt.

Das Glück dieser Gesellschaft kommt jedoch nicht ohne Preis: Ein einziges Kind, vernachlässigt, allein und ohne Kontakte zur Außenwelt, lebt in einem der schillernden Gebäude der Stadt und sein Leid ist der Preis für das gesamte Glück der anderen:

„[…] they all understand, that their happiness, the beauty of their city, the tenderness of their friendships, the health of their children […] depend wholly on this child’s abominable misery.” (S.6)

Während ein Großteil der Gesellschaft sich dazu entschließt, das Leiden des Kindes hinzunehmen, um weiterhin ein sorgenfreies Leben führen zu können, gibt es hin und wieder Personen, die sich entschließen Omelas den Rücken zu kehren. Sie können nicht mit dem Gedanken leben, auf dem Leid eines anderen Menschen ihr Glück aufzubauen.

Die philosophische Erzählung kann, wie Le Guin selber schreibt, für jeden etwas anderes bedeuten. Beim Lesen stellt man sich unweigerlich die Frage, wie man selbst reagieren würde. Die meisten würden vermutlich behaupten, dass sie zu denjenigen gehörten, die Omelas verlassen würden. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, stellt sich unweigerlich die Frage: Stimmt das? Leben wir nicht auch in einer ähnlichen Gesellschaft, deren Luxus auf dem Leid anderer beruht?

The Ones Who Walk Away from Omelas gibt es bei Thalia für 4,66€ als eBook zu kaufen.

Fundstück: „seven methods of killing kylie jenner“ von Jasmine Lee-Jones

„RETWEET, LIKE, FOLLOW, LIKE, REPORT, UNFOLLOW, QUOTE TWEET, OMG, OMG, OMG“

(Foto: Hannah Mallwitz)

Für Theaterfans wie mich gilt der Welttag des Theaters am 27. März fast schon als Feiertag, weshalb ich ihn jedes Jahr mit einem Theaterbesuch oder dem Lesen eines Dramas zelebriere. In diesem Jahr ist es ein innovatives Drama, das nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Buch den Puls der Zeit trifft. In Jasmine Lee-Jones‘ seven methods of killing kylie jenner nimmt niemand ein Blatt vor den Mund und es wird gnadenlos ermittelt, was es bedeutet, als schwarze Frau in Zeiten von Social Media zu leben. Für ihr Werk erhielt Lee-Jones‘ im Alter von 21 Jahren nicht nur einen Olivier Award, sondern auch den Europäischen Nachwuchsdramatiker:innenpreis des Schauspiel Stuttgart 2020.

Wilkommen in der Twittersphere

Cleo und Kara sind beste Freundinnen von Kindesalter an. Als Cleo sich jedoch bei ihren Nachforschungen zu strukturellem Rassismus ausgerechnet auf Twitter über das Blackfishing von Berühmtheiten wie Kylie Jenner aufregt, löst sie damit nicht nur eine Woge an Beschimpfungen online aus, sondern auch Kara fühlt sich von Cleos Tweets betroffen. Was folgt ist eine politisch korrekte und auch herzzerreißende Auseinandersetzung damit, wie Rassismus, Sexualität und Freundschaft die Leben der beiden jungen Frauen beeinflussen und sie voneinander trennen und zusammenbringen.

Besonders an diesem Drama ist, wie es die Figuren mit ihrer Onlinepräsenz verknüpft und so ein, häufig theatralisch überzogenes, Bild des Einflusses von Social Media auf junge Menschen zeichnet. Auf der Bühne können online und offline Welten räumlich dargestellt werden, in Buchform geschieht die Trennung jedoch auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Den Text begleiten immer wieder abgedruckte Tweets und Memes, durch welche ein direkter Bezug zur Onlinekultur genommen wird. Die popkulturelle und für die Handlung relevante Bedeutung muss von den Lesenden zusammen mit den Hauptfiguren gedeutet werden. Dies stellt nicht nur in der Diegese die Bedeutung des Internets für die Hauptfiguren dar, sondern führt auch den Lesenden vor Augen, wie sehr sie selbst in der Onlinekultur involviert sind.

seven methods of killing kylie jenner ist bei Methuen Drama erschienen und kostet in der EU derzeit 9,99 €.

Fundstück: „Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau

„Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau (Bild: Leonard Masloch)

ahnung von liebe schon jetzt in der steinzeit“

1980 erstveröffentlicht und immer noch lesenswert: In seiner Kleinstadtnovelle thematisiert Ronald M. Schernikau die Schwierigkeit, sich in einer (mit heutigen Begriffen) hetero-normativen Gesellschaft zurechtzufinden, wenn man eben nicht jenen Gesellschaftsnormen entspricht.

Der schwule Protagonist, dessen Name nur mit b. abgekürzt wird, verliebt sich in seinen Schulkameraden leif. Eine sich zwischen beiden entwickelnde Liebhaberschaft wird letztlich zu einem Schulskandal, nachdem leif b. der Verführung beschuldigt und diese meldet. In der Kleinstadt entwickelt sich rasch ein öffentlichkeitswirksames Schauspiel, auf dessen Höhepunkt die Eltern, Lehrer*innen sowie b. und leif auf einer Schulkonferenz Stellung zum vermeintlichen Skandal beziehen sollen.

Schernikau schafft es hier auf nicht einmal 90 Seiten die Absurdität der selbstzerstörerischen Befolgung toxischer Männlichkeitsideale herauszustellen und den sozialen Sinn unterdrückerischer, primär binär-kodierter Geschlechterverständnisse in durchaus auch kapitalismuskritischer Weise zu hinterfragen. Kleinstadtnovelle ist ein trauriges, aber subtil hoffnungsvolles Buch, das leider noch immer aktuell ist.

„der wille zur subkultur? auch, und die einsicht: kein glück hier und heute. wer das weiß, widersprüche unlösbar sein läßt und sich konzentriert auf machbares, der hat zukunft.“

Kleinstadtnovelle ist zur Zeit beim Konkret Literatur Verlag im Programm und kostet 12,00 Euro.

Fundstück: „Bunny“ von Mona Awad

„Ein Fiebertraum“, „Mean Girls auf LSD“, „verstörend“. So beschreiben User:innen den Roman Bunny von Mona Awad auf Instagram und TikTok. Schneller kann man mich nicht überzeugen, ein Buch in die Hand zu nehmen.

„I love you, Bunny“

Samantha ist eine Außenseiterin an der fiktionalen Warren University. Die Eliteuni ist für ihren harten Auswahlprozess und experimentellen Zugang zum kreativen Schreiben berüchtigt. Ihre vier Kommilitoninnen bilden eine Clique, die Bunnys. Sie tragen sündhaft teure Kleidchen, umarmen einander theatralisch, finden die Kurzgeschichten der jeweils anderen so innovativ und nennen einander Bunny. Als die Bunnys Samantha zu einem ihrer geheimnisvollen smut salons einladen, glaubt diese noch an einen Scherz. Sie akzeptiert jedoch die Einladung und wird in die Bunny-Clique hineingesogen. Was dann geschieht, dehnt und sprengt die Realität so sehr, dass am Ende nicht mehr klar ist, was eigentlich passiert ist – und was nicht.

Der Roman „Bunny“ wurde hauptsächlich durch soziale Netzwerke populär. (Foto: Luca Gerke)

Literatur in den sozialen Medien

Ich finde Bunny nicht nur wegen seiner haarsträubenden Handlung so interessant, sondern auch, weil seine Präsentation im Internet zeigt, wie Literatur und soziale Medien miteinander verwoben sind. Populär wurde Bunny nämlich – wie soll es anders sein – auf TikTok. Während der Roman noch immer als „the weirdest book you’ll ever read“ angepriesen wird, sind andere User:innen längst dazu übergegangen, die Ästhetik des Romans einzufangen – Kerzen, Sommerkleidchen, pastellfarbene Pillen und wahlweise niedliche oder gruselige Kaninchen. Die Diskussion des Romans findet längst nicht mehr nur auf inhaltlicher, sondern auch auf visueller Ebene statt.

Auf einem Blog über Literatur und Digitales sollte es keine überraschende Feststellung sein, dass Algorithmen nicht nur bestimmen was wir kaufen, sondern auch was wir lesen. So froh ich auch bin, Bunny auf Instagram entdeckt zu haben, lässt mich die Frage nicht los, was ich lesen würde, wenn ich nicht ständig vom Algorithmus mit Buchempfehlungen gefüttert würde. Manchmal vermisse ich es, ganz unvoreingenommen in die Buchhandlung zu gehen und einfach die Bücher auszuwählen, die mich ansprechen.

Weltfrauentag, die Longlist für den Women’s Prize for Fiction und einige Buchempfehlungen

Quelle: Johanna Jendrysek

Vor mehr als 100 Jahren entstand im Kampf um die Gleichberechtigung, das Wahlrecht für Frauen und deren Emanzipation in der Arbeitswelt der Weltfrauentag. Heute, am 8. März, wird er noch immer gefeiert und dafür genutzt, auf die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen im alltäglichen Leben aufmerksam zu machen und dafür zu kämpfen, diese zu beseitigen.

In den USA wurde bereits 1909 ein sogenannter „Nationaler Kampftag für das Frauenstimmrecht“ veranstaltetet. Die deutsche Frauenrechtlerin Clara Zetkin ließ sich davon inspirieren und begründete somit am 19. März 1911 den ersten Weltfrauentag. Zehn Jahre später wurde er durch einen Beschluss der Zweiten Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen auf den 8. März verlegt, zu Ehren der Frauen, die bei der Februarrevolution 1917 in Russland zu den ersten gehörten, die auf die Straße gingen. Der 8. März gilt seitdem als Gedenktag für den Kampf um Frauenrechte.

Einige Städte wie Berlin oder Bonn beispielsweise bieten heute dazu ein vielseitiges Programm an, von Infoständen, Lesungen und Diskussionsrunden zu Workshops, Poetry Slams und Kinovorstellungen rund ums Thema.

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Fundstück: „Mädels, die lesen“ – ein digitaler Buchclub

Auf dem Instagram-Kanal @maedelsdielesen tauscht sich die Community monatlich über ein gemeinsam gelesenes Buch aus. (Bild: Eva Beckmann)

Lesen ist kein einsames Hobby. Wer sich regelmäßig mit Freund:innen über Bücher austauscht, weiß das. Aus dieser Überzeugung heraus treffen Menschen sich seit langem in Lesekreisen. Seit nicht ganz so langer Zeit entstehen auch Online-Communities wie Buchblogs und Literaturaccounts in den sozialen Medien. Mit „Mädels, die lesen“ hat Helen Daughtrey eine Kombination aus beidem gegründet – einen Buchclub bei Instagram.

Das Prinzip ist einfach: Jeden Monat stellt Daughtrey ihrer Community in einem Instagram-Livestream vier Bücher vor. Anschließend wird in zwei Runden darüber abgestimmt, welches Buch der Club gemeinsam liest. In Leseabschnitten wird die Lektüre dann nach und nach auf dem Account besprochen.

Soweit das Grundgerüst des Projekts. Rund um die Monatslektüre passiert im „Buchclub to go“ noch eine Menge mehr: Es gibt einen Podcast, in dem Daughtrey sich mit Menschen aus der Community zum Gespräch trifft, Playlists zu den einzelnen Lektüren und manchmal sogar einen Livestream mit der Person, die das Monatsbuch geschrieben hat. Immer geht es um Austausch und das Gefühl der Verbundenheit durch eine gemeinsame Lektüre. Wer kostenpflichtig Teil der Schmökerrunde wird, darf exklusiv an der ersten Abstimmungsrunde teilnehmen und sogar eigene Titelvorschläge ins Rennen schicken. Außerdem trifft die Schmökerrunde sich zu virtuellen Buchclub-, Film- und Kochabenden.

Ende Januar 2020 ist das Projekt gestartet – kurz bevor digitale Vernetzung plötzlich in aller Munde war. Während Helen Daughtrey anfangs alles allein organisierte, hat sich inzwischen ein kleines Team gebildet, das mit individuellen Expertisen das Projekt unterstützt.

Für diesen März hat sich die Community auf den Titel Die Farbe von Milch von Nell Leyshon geeinigt. Der Monat hat gerade erst begonnen – steigt doch noch mit ein, wenn euch der Roman interessiert!

Der Deutsche Hörbuchpreis und die lit.COLOGNE 2023

Die lit.COLOGNE (Quelle: Wikimedia)

Zum 23. Mal startet am heute, am 1. März, die lit.COLOGNE, das internationale Literaturfest in Köln. Bis zum 11. März können Besucher:innen nun verschiedene Auftritte rund um die Themen Literatur und Kultur besuchen. Das Fest bietet nicht nur klassische Lesungen in seinem Programm, auch Diskussionen und Theater- und Kabaretteinheiten ergänzen die Angebote, welche in Theatern und anderen Kulturstätten im Kölner Stadtgebiet stattfinden. Inbegriffen ist auch ein extra Programm für Kinder unter dem Namen lit.kid.COLOGNE. Auch hier gibt es ein bunt gemischtes Programm für Kinder und Jugendliche, sowohl unter der Woche für Schulklassen als auch am Wochenende für Familien.

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Fundstück: Ich denk, ich denk zu viel

Das Buch ich denk ich denk zu viel liegt auf lilafarbenem Stoff

„Ich denk, ich denk zu viel“ von Nina Kunz (Bild: Elena Hesterkamp)

„Manchmal fühlt sich das Internet an, als würde ich verhungern, obwohl mir die ganze Zeit jemand das Maul stopft.“ – Nina Kunz

Ich denk, ich denk zu viel – als ich den Titel von Nina Kunz‘ Buch las, dachte ich: Das passt wie Faust aufs Auge. Denn ich bin so gut im Zumüllen meines Hirns wie Marie Kondō im Ausmisten eines Kleiderschranks. Der Name Nina Kunz sagte mir zunächst gar nichts. Zuerst vermutete ich eine Anleitung gegen das Grübeln, doch das ist es nicht. Ich denk, ich denk zu viel  ist nämlich kein Sachbuch, sondern eine Sammlung kurzer Texte, von denen manche fast anmuten wie Logbucheinträge. Kunz ist Schweizer Kolumnistin des Jahres 2020. In ihrem Buch sind 30 „Notizen aus dem Jetzt“, wie sie sie nennt, zu finden.

Sinnkrisen, Selbstzweifel, Sehnsüchte

Schreibend denkt die 1993 geborene Autorin über all das nach, worüber ‚Zillennials‘ heutzutage eben nachdenken. Entstanden sind sehr persönliche Texte, die aber sinnbildlich für eine ganze Generation stehen. Kunz schreibt zum Beispiel über die Abhängigkeit vom Smartphone, über das ständige Vergleichen mit anderen, über das Gefühl, niemals genug geschafft zu haben. Ihre Texte sind aufgeteilt in drei Kapitel: Eines trägt die Überschrift „Sinnkrisen“, eines „Selbstzweifel“ und eines „Sehnsüchte“. Große Begriffe, die Kunz mithilfe teils großer Namen wie Michel Foucault oder Julia Kristeva reflektiert. Denn, so schreibt Kunz im Vorwort, das Buch sei „zur einen Hälfte ein Tagebuch ist und zur anderen ein Theoriesammelsurium“.

Denken mit Beauvoir und Illouz

Sie berichtet vom Zwang, düstere Gedanken beiseite zu schieben, um ja einen guten Tag zu haben – und nimmt dabei Bezug auf den von Eva Illouz‘ geprägten Begriff „Happychonder“, der einen Menschen beschreibt, der permanent Angst hat, nicht glücklich genug zu sein. Mit Simone de Beauvoir erklärt sie, woher die Angst kommt, jemanden gegen den Kopf zu stoßen. Weil Frauen lernen, anderen gefallen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Kunz zählt zudem die für sie wichtigsten feministischen Bücher der letzten Dekade auf, fasst zusammen, was sie durch die Lektüre gelernt hat und ermuntert so die Leser*innen ihre eigenen Lektionen aus dem Lesen zu ziehen. Nicht nur deshalb ist Ich denk, ich denk zu viel nicht nur ein Buch für Kunz‘ Generation. Dem ein oder anderen ‚Boomer‘ könnte es helfen, ‚die Jüngeren‘ besser zu verstehen. Und spätestens im Text mit dem Titel „Weltschmerz“ findet sich wohl jede*r wieder.

Ich denk, ich denk zu viel (192 Seiten) ist im Verlag Kein & Aber erschienen und kostet in der gebundenen Ausgabe 22,00 Euro.

Frauen: Der anhaltende Trend auf deutschen Buchcovern

Eine Frau steht mit dem Rücken zum Betrachter und schaut auf’s Meer. Eine Frau in wallendem schwarzen Kleid steht mit dem Rücken zum Betrachter und schaut auf einen finsteren Wald. Eine Frau sitzt auf einer grünen Wiese, dem Betrachter zugewandt, und genießt mit geschlossenen Augen den Wind in ihren Haaren. Ein Frauengesicht in Nahaufnahme schaut hinter einer Ranke hervor, die Augen stark geschminkt und von unnatürlicher Farbe (gerne gelb oder knallgrün). Eine Frau in knapper oder historischer Kleidung schmiegt sich an eine nackte Männerbrust.

Bei jedem dieser Sätze entsteht vermutlich ein Bild vor unserem inneren Auge und wer sich jetzt fragt, wo er sowas schon mal gesehen hat, muss nur einen Blick ins eigene Bücherregal werfen (oder durch den Buchladen schlendern).

Bilder von Frauen, ob gezeichnet oder fotografiert, sind mit die häufigsten Buchcover in Deutschland. Frauen ohne Gesicht und Frauen die auf Wasser schauen gelten sogar als richtige Trends auf dem Cover-Markt. Wie kann es sein, dass Frauen hier so überrepräsentiert sind? Schließlich gibt es doch genügend Bücher, die männliche Protagonisten haben.

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Fundstück: „Nightbitch“ von Rachel Yoder

„I think I’m turning into a dog“

Eines Tages entdeckt die Mutter, dass ihr ein Fell im Nacken wächst. Auch ihre Zähne sind spitzer geworden, so, als könne sie Beute damit reißen. Während andere Frauen alarmiert Pinzette und Wachsstreifen aus dem Badezimmerschrank kramen würden, nimmt die Mutter die Veränderungen an. Sie ist sich sicher, dass sie sich in einen Hund verwandeln wird. Doch statt Ekel oder Selbsthass löst diese Gewissheit eine große Neugier in ihr aus.

„Nightbitch“ bietet eine unkonventionelle Perspektive auf das Thema Mutterschaft. (Bild: Luca Gerke)

Becoming Nightbitch

Die Protagonistin des Romans Nightbitch von Rachel Yoder hat keinen Namen, denn das Muttersein bestimmt ihre Identität. Sie hat ihren Traumjob in der Kunstbranche aufgegeben – die vernünftige Entscheidung, da ihr Mann als Ingenieur mehr verdient als sie – und bleibt nun zu Hause, um sich um ihren zweijährigen Sohn zu kümmern. Ihr Tagesablauf ist immer gleich und ihr Mann reist beruflich viel, sodass sich Langeweile und Einsamkeit zu einem erstickenden Brei vermischen.

Ihre Verwandlung in einen Hund bietet der Mutter daher eine Möglichkeit, aus ihrem frustrierenden Alltag auszubrechen. Lässt sie anfangs noch ab und an in ihrer menschlichen Form ein Bellen über ihre Lippen kommen, so verwandelt sie sich bald vollständig in einen zotteligen Wolfshund. Plötzlich ist sie nicht mehr nur Mutter, sondern Raubtier, selbstbestimmt, gefährlich und frei. Nightbitch ist der Name, den sie sich auf ihren nächtlichen Streifzügen durch die ihre spießige Nachbarschaft selbst gibt.

Was unsere Mütter nicht erzählen

Rachel Yoder hebt vor allem die Seiten des Mutterseins hervor, die oft heruntergespielt oder gar nicht erst erwähnt werden. Langeweile, Einsamkeit, Erschöpfung, Unzulänglichkeit und Frustration bestimmen den Alltag der Mutter. Gleichzeitig findet Nightbitch aber auch Akzeptanz und Gemeinschaft in den Müttern ihrer Nachbarschaft, sodass der Roman eine nicht ausschließlich pessimistische Perspektive auf das Muttersein bietet.