Im Zuge jedes Poet in Residence der Universität Duisburg-Essen findet eine Schreibwerkstatt für Studierende statt, die das Highlight der ganzen Woche sein kann. Abhängig ist das vom Gast, der auch bestimmt, was in den insgesamt drei Terminen getan wird. Das grobe Ziel ist es, Schreiben, Ansätze, Perspektiven unter Anleitung zu erproben.
Diesen Herbst gibt es die Besonderheit, dass der Poet zugleich der Abschluss von Eine Uni – ein Buch ist, der Veranstaltungsreihe um Olivas Garten, die unsere Digitur-Redaktion seit Juni abdeckt. Daher haben wir das Vergnügen gehabt, Alida Bremer in Essen begrüßen zu dürfen.
Ihre Ansichten über das Schreiben, die gefärbt sind von ihrem späten Erwerb der deutschen Sprache und ihrer Tätigkeit als Übersetzerin und Kulturvermittlerin, haben zu einer Werkstatt geführt, in der viel mehr gearbeitet wird als über das Schreiben zu reden und nachzudenken. Studierenden, die meist theoretisch an die Materie herangehen, vor allem wissenschaftlich und/oder nicht in den USA Kreatives Schreiben belegen, kommt diese Haltung zugute. Im Folgenden werden die Aufgaben geteilt (alle zeitlich begrenzt), die wir bearbeitet haben, sodass jeder mit ihnen üben kann.
Aufgabe 1: Zu einem zufällig genannten Begriff („Trennung“) einen Dialog schreiben (10 min).
Nicht nur sollen die Übungen in diesem Beitrag auftauchen, sondern auch Schnipsel an Hinweisen und Kommentaren, die zwischendurch gefallen sind, wie auch einige der Texte, die ich innerhalb der Limitationen geschrieben habe. Vielleicht dienen sie euch der Inspiration oder zumindest der Veranschaulichung, was alles möglich ist und woran man selbst eventuell nicht denkt.
Aufgabe 2: Eine detaillierte Beschreibung eines Gegenstands (15 min).
Einige werden es beim eigenen Schreiben, z.B. beim Verfassen von Hausarbeiten, bemerkt haben, dass es einen Punkt gibt, an dem sich ein ‚Kanal‘ öffnet. Alle abstrakten, hochkomplexen und damit schwer greifbaren Gedanken strömen hinaus. Eine Idee jagt die andere, ist Sprungbrett für die nächsten, besseren. Erst im Prozess ordnet sich das mentale Gewusel, das sich mit jeder Information, die verbaut werden soll, vergrößert; man befindet sich ‚in der Materie‘, wie ich es nennen würde.
„Schreiben ist nicht nur Fixieren, sondern das Öffnen der Wege für neue Gedanken.“ – Alida Bremer
In diesem Sinne, empfiehlt es sich, das Schreiben zur Gewohnheit, ggf. zur Notwendigkeit zu machen, und jede Gelegenheit zu nutzen, diesen Vorgang zu erreichen. Und ein Notizbuch mit sich zu führen, um genau das zu ermöglichen.
Aufgabe 3: Brainstorming „Ich und mein Schreiben“ (10 min).
Aus welchen Gründen schreiben Menschen, was bedeutet es für sie, was schreiben sie? Gegen Ende des dritten Tages sollten wir uns Gedanken über unserer Lieblingsbuch machen (sofern vorhanden), warum es das ist; ein Aufgriff dieser Herausforderung. Arbeiten ohne zu wissen, wohin es führt bzw. für was, zu welchem Zweck, ist auf lange Sicht frustrierend, wie auch Alida Bremer findet. Sich ein Ziel zu setzen, hilft und diese Überlegungen weisen (grob) den Weg. Schließlich lassen sich Spannungsbögen viel einfacher konstruieren, wenn man beide Enden kennt.
Aufgabe 4: Ein Text mit selbstgemachtem bzw. mitgebrachtem Bild als Vorlage (10-15 min).
Mein Bild ist eine Aufnahme von Ta Prohm in Kambodscha.
Titel: Was wäre, wenn?
Was wäre, wenn diese 800 Jahre alte Ruine in der Blüte ihrer Zeit stünde? Kein Moos an den Wänden, keine Ranken und Bäume, die das Bauwerk umschließen und fast schon erwürgen. Keine Steinblöcke, die so aussehen, als könnten sie jederzeit herunterfallen.
Was wäre, wenn hier noch Menschen lebten? Was würden sie hier tun? Was würden sie sagen, in welcher Sprache, was tragen, aus welchen Stoffen, was tun, aus welchem Anreiz?
Was wäre, wenn noch mehr Zeit verginge? Würden die Mauern von Wurzeln zu Geröll zerquetscht werden? Wird das Wasser aus dem Becken übertreten? Ließen sich die filigranen Arbeiten an den Wänden überhaupt noch als solche wahrnehmen?
Was wäre, wenn unter der Algendecke im Tümpel etwas lauern würde? Etwas, das dieser Realität, unserer, nicht angehören muss. Gäbe es hier noch Touristen? Gäbe es sogar mehr?
Was wäre, wenn diese Ruine nicht in einem Urwald in Südostasien, sondern in einer Wüste, in der Tundra, auf einem Berghang oder in eine Schlucht eingehauen befinden würde? Wären die Darstellungen noch dieselben? Würde die Architektur genauso hoch ausfallen? Gäbe es komplizierte Bewässerungsanlagen? Wären diese dann oberflächlich? Das Gestein wäre anders, nicht rötlich, noch rötlicher.
Was wäre, wenn diese Anlage nicht an der Oberfläche liegen würde? Hätte sie Dächer? Gäbe es Tümpel? Gäbe es Bäume und Ranken? Würden die Wände mit Ruß überzogen sein wegen offener, lichtspendender Feuer?
Was wäre, wenn sie früher gebaut worden wäre? Der Stil wäre ein anderer, aber nicht wegen anderer Ansichten, nicht zwingend, sondern wegen eines anderen Stadiums derselben. Die Architektur wäre anders wegen anderen Methoden. Der Fokus anders, aus anderen Bedürfnissen.
Aufgabe 5: Lyrik mit mindestens 3 Begriffen einer kleinen Liste (10-15 min).
Alle Teilnehmenden nannten einen Begriff, wodurch diese Liste von zehn Wörtern entstanden ist: Wolf, Dunkel, Maschinell, Papier, Frau, Wasser, Kugel, Meer, Gelb, Wald.
Anstelle einer Wortabfolge mit viel zu vielen Schrägstrichen als Absatzersatz, hier meine Gedanken bei dieser Übung: Märchen, so hieß es zwischendurch, stellen gute Ansatzpunkte dar, um das Schreiben anzuregen. Sie alle enthalten Motive, die auch heutige Texte anführen und stellen einen kollektiven Bezugsrahmen dar. Das heißt, eine bloße Erwähnung von z.B. Rotkäppchen reicht aus, um Botschaften zu vermitteln, wo andernfalls ganze Absätze erforderlich sind. Der Leser hat sofort ein Bild vor Augen.
Dieser Hintergrund, zusammen mit dem Zufall der Existenz von Rotkäppchen Sekt und Erinnerungen an einen Song, reichte aus, eine nicht-reimende, aber rhythmische und leicht übertreibende Ansammlung von Versen zu schreiben mit modern-urbaner Verwahrlosung und ‚Ellenbogen-Mentalität‘ als Thema.
Aufgabe 6: Einen Text zu einem selbst gewählten Sprichwort schreiben (10-15 min).
Erinnerungen gehören zu uns, beeinflussen unser Tun, das steht nicht in Frage. Und Erinnerungen sind Bilder. Diese zu vermitteln erfordert Formulierung (die Literatur zu solcher macht), die wiederum auf Auseinandersetzung beruht. Das bedeutet Arbeit. Daher: Schreiben = Arbeit. Ersichtlich wird das auch beim Wort ‚überarbeiten‘. Verbessern. Trainieren. Wie bei jedem Training gilt auch hier, dass die Fähigkeiten in der Praxis zunehmen. Jede Auseinandersetzung mit Sprache ist gut, handele es sich dabei um Ratgeber, wissenschaftliches Arbeiten oder Workshops. Gerade Letztere profitieren von einer oft erwähnten Haltung:
„Es gibt keine genialen Schriftsteller. Die haben alle Techniken.“ – Alida Bremer
Imitatio und Mimesis. Antike Regelpoetiken, ihre Adaption und Überholung. Bilder, Märchen und Sprichwörter, mit ihren enthaltenen Weisheiten, als Inspirationsquelle; alle sind z.T. sehr alte Werkzeuge mit sehr effektiver Wirkung. Schreiben kann gelernt und verbessert werden. Kunst ist dynamisch. Es ist ernüchternd, sich mit den ewig rezitierten Riesen messen zu wollen und in einem Schatten zu bleiben, der mal mehr, mal weniger gerechtfertigt aufrechterhalten wird. Das verleitet zu einer bloßen Kopie des Alten, Stagnation im Schaffen, Verhärtung von Konventionen, Statik. Eine Lockerung der Genie-Verehrung bedeutet mehr Raum für den Nachwuchs, der selber lernen kann, was die Größen zu dem gemacht haben, das sie sind. Die Kultur bewahrt sich die Zukunft.
Aufgabe 7: Die Schwierigkeit, sich eine ideale Stadt vorzustellen (nach Georges Perec: Denken/Ordnen; 10 min).
‚Ideale Stadt‘ ist für mich zunächst ein deprimierender Gedanke. In der realen Welt ist es ein unerreichbarer Zustand, dank Erosion, Chaos und freien Willen. Schon Platon beschrieb seine Ideale als abgekapselt von uns, die Wirklichkeit ein Schatten der Ideen. In der Literatur ist eine ideale Stadt eine, die nicht mehr existiert, gerade untergeht, noch untergehen wird oder erst noch errichtet werden muss.
Ich sehe ‚ideal‘ daher als das Bestmögliche, nicht unähnlich zu Leibniz und seiner Antwort auf die Theodizee-Frage, warum wir in einer makelbehafteten Welt leben, die von einem makellosen Wesen erschaffen worden sein soll. ‚Ideal‘ ändert sich je nach Ansinnen, je nach Bedürfnis, je nach Kontext, weil auch meine Einstellung und mein Tun nie stagniert und sich stets verändert.
Und überhaupt: Wer definiert ‚ideal‘?
Aufgabe 8: Tarot (15-20 min).
Alida Bremer teilte mit, dass viele Künstler, vergangene wie gegenwärtige (und erwartbar auch zukünftige), Tarotkarten nutzen, um sich inspirieren zu lassen. Sie sind alle illustriert, stilisiert und mit einer Bedeutung verknüpft, die nicht zwangsweise bekannt sein muss. Sie sind Bilder, mit denen Vermittlung zusammenhängt.
Letzteres ist zentral fürs Schreiben, denn einerseits werden tagtäglich allerhand Inhalte vermittelt, mit uns als Empfänger. Diese Eindrücke gehören zum Erinnerungsschatz, auf den wir uns im kreativen Prozess beziehen (die „Schatzkiste“, wie sie in der ersten Poetikvorlesung Erwähnung fand). Andererseits ist Schreiben selbst Vermittlung an andere, was eine der entscheidendsten Informationen während der Blöcke darstellt: Es gibt immer jemanden, der es liest. Schreiben ist Kommunikation. Das kann ein erschreckender Gedanke sein.
Das Übersetzen von den inneren Bildern in äußere ist mit einem sehr hohen Grad an Intimität verbunden. Eine Kommilitonin, die nicht anwesend war, beschreibt Schreiben auch als Offenlegung des Selbst. Damit sind bekannterweise allerhand Hürden/Ängste verbunden, die wiederum hemmen. Sich ihnen zu stellen und ggf. zu überwinden gehört zu dem Werdegang vieler Figuren in Literatur dazu, sei es Frodo in Der Herr der Ringe, der sich einer Macht hingibt, vor der die halbe Welt erzittert, oder William von Baskerville in Der Name der Rose, der in einem italienischen Bergkloster Geheimnisse aufdeckt. Es ist poetisch, dass für Schreibende dasselbe gilt.
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