Disney+: Flucht in eine heile, nicht ganz so heile Welt

Märchenhafte Kindheitsträume leben mit Disney+ wieder auf – aber trügt der perfekte Schein? (Bild: CC0 pixabay)

Stillgelegte Innenstädte erinnern beinahe an das eingefrorene Leben in Dornröschens verwunschenem Schloss. Unser soziales Leben spielt sich zum ersten Mal nahezu gänzlich in sozialen Netzwerken ab und viele von uns sind auf der Suche nach sinnvoller Beschäftigung oder Ablenkung für Zuhause. Mitten in dieser Zeit der Selbstisolation startete am 24. März 2020 nun auch in Deutschland der neue Video-on-Demand-Dienst Disney+ und bringt etwas Kinofeeling in die Wohnzimmer. Das Angebot von Disney+ umfasst neben den Zeichentrick-Klassikern auch bekannte Serien, neuere Realverfilmungen und Animationsfilme, dazu zählen Produktionen von Pixar, Marvel, Star Wars und National Geographic, die inzwischen zur Walt Disney Company gehören.

Disney-Filme verbinden viele Sehnsüchte, die Zuhausebleibende in dieser Zeit teilen: Sie regen dazu an, in Nostalgie und glücklichen Kindheitserinnerungen zu schwelgen und lassen uns von einer heilen Welt träumen, denn ein Happy End ist garantiert. Doch: Wie heile ist die Welt der Disney-Filme wirklich? Mit dem Start von Disney+ lebt auch die Diskussion um rassistische und sexistische Darstellungen in Disney-Filmen wieder auf. Die Kritik betrifft vor allem die beliebten abendfüllenden Zeichentrick-Klassiker, die ab 1937 produziert wurden. Passive und häusliche Frauenfiguren müssen von Prinzen gerettet, wachgeküsst, geleitet und gemocht werden – für Letzteres ist insbesondere ihre körperliche Schönheit von Bedeutung. Selbst der starken Protagonistin Mulan wird im gesamten Film ein geringerer Sprechanteil zuteil als ihrem männlichen Maskottchen Mushu. Hinzu kommt die Reproduktion zahlreicher rassistischer Stereotype: Im englischen Originalton-Intro zu Aladdin wird ein barbarischer Orient besungen – eine Generalisierung, die im Verlauf des Films visuell unterstützt wird. Die Geschichte der Pocahontas romantisiert die Begegnung der wahren amerikanischen Ureinwohnerin mit den Europäern. In Dumbo singen gesichtslose Schwarze Arbeiter von ihrem Glück, während sie in unbezahlter Schwerstarbeit ein Zirkuszelt aufbauen. Die Liste ist noch länger.

In einem Video des Youtube-Kanals Simplicissimus vom 24. März 2020 wird besonders die unzureichende Kennzeichnung der diskriminierenden Inhalte durch entsprechende Disclaimer auf Disney+ kritisiert. Während es falsch sei, die Filme zu zensieren, da das einer Verleugnung der (Kultur-)Geschichte gleichkommen würde, sei es dringend notwendig, die Zeichen der Diskriminierung nicht auszublenden, sondern sie kritisch und kontextbezogen zu betrachten – und gegebenenfalls auch mit Kindern zu diskutieren. Fans der Filme stellt die Kritik vor einen Gewissenskonflikt: Viele fühlen sich emotional mit den Filmen verbunden und von der Kritik persönlich getroffen. Das spiegelt sich in manchen Kommentaren zum Simplicissimus-Video: Einige Zuschauer*innen lehnen die Kritik an den Disney-Filmen ab, obwohl sie ihnen die klischeebehafteten Inhalte nicht absprechen können. Stattdessen erklären sie diese für (inzwischen) unproblematisch. Wer dabei oft außen vor bleibt, sind diejenigen Menschen, die tatsächlich in den Filmen falsch repräsentiert und diskriminiert werden. Doch die Freiheit, sich mit den in Filmen dargestellten Figuren in positiver Weise identifizieren zu können, darf nicht nur einer ausgewählten Gruppe von Menschen vorbehalten sein.

Studien wie die der BYU-Professorin Sarah M. Coyne von 2016 oder die KIM-Studie des mpfs von 2018 zeigen, dass Filme Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nehmen, indem sie beispielsweise als Quelle von Idolen dienen. Die unreflektierte Darstellung alter Weltbilder in Disney-Filmen bleibt also problematisch, vor allem weil Rassismus und Sexismus trotz vieler Fortschritte längst nicht der Vergangenheit angehören. Der Medienwissenschaftler Dr. Jack Shaheen beschäftigte sich zum Beispiel mit der negativen filmischen Darstellung von Arabern, war 1992 zentral an Protesten gegen den Disney-Film Aladdin beteiligt und erreichte so die Änderung einiger extrem rassistischer Liedzeilen. In einem anderen Fall distanzierte sich Shirley Custalow McGowan, Nachfahrin der Powhatan-Algonkin, die Vorbild für den Film Pocahontas waren, aufgrund der fälschlichen Darstellung von wahren Begebenheiten von dem Film, an dem sie zunächst mitgewirkt hatte.

Es ist also wichtig, diskriminierende Inhalte in den Lieblingsfilmen unserer Kindheit als solche anzuerkennen und uns über realhistorische Zusammenhänge zu informieren. Die kritisierten Filme und ihre Problematiken bleiben nämlich nicht nur Zeichen ihrer Zeit, sondern auch zentral für die historische Entwicklung des Animationsfilms. Die Kritik trägt deshalb dazu bei, dass ähnlich diskriminierende Inhalte heute nicht mehr produziert werden. Seit einigen Jahren schreibt die Walt Disney Company neue Erfolgsgeschichten mit Titeln wie Merida – Legende der Highlands (2012) und Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (2013), denen es gelingt, starke Frauenfiguren mit märchenhaften Prinzessinnengeschichten zu verbinden. Auch Coco (2017) erntete positive Reaktionen und ist viel für seine authentische Darstellung der mexikanischen Kultur gelobt worden.

Das Angebot auf Disney+ ist riesig und die Zeichentrick-Klassiker bilden nur einen kleinen Teil der Auswahl. Ob wir uns von alten Lieblingsfilmen aus der Kindheit fesseln lassen oder neue Filme entdecken, Fakt ist: Die fantastischen Welten und abenteuerlichen Geschichten der Held*innen sprengen immerhin eine Filmlänge lang die Grenzen des eigenen Wohnzimmers und entführen uns auf gedankliche Reisen.

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