Ein visionärer Denker: zu Ehren des 40. Todesjahrs Erich Fromms

Erich Fromms zeitdiagnostisches Werk Haben oder Sein. Bild: Jannick Griguhn

Erich Fromms diagnostisches Werk Haben oder Sein. Bild: Jannick Griguhn

„Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen Veränderung des Herzens ab“, schrieb Erich Fromm 1976 in einem seiner bedeutendsten Werke namens Haben oder Sein. Was zunächst als pathetisch und leicht kitschig anmutet, erscheint bei einer gründlichen Lektüre der Texte des Psychoanalytikers, Philosophen und Soziologen als dringlicher, authentischer und ernsthafter Appell an seine Mitmenschen: Denn eine Gesellschaftsordnung wie die unsere, die auf Eigensinn, Profit, Machtstreben, Begehren und Besitz fußt, so Fromms These, erzeugt nicht nur notorisch unglückliche Menschen, sondern führt unweigerlich zu Kriegen und zur Ausbeutung der Natur und des Menschen.

Erich Fromm, der am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren wurde und am 18. März 1980 in Locarno starb, ist vor allem durch seine zeitweilige Verbindung zur sogenannten Frankfurter Schule bekannt, als deren bekannteste Vertreter*innen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gelten. Im Jahre 1934 emigrierte Fromm in die Vereinigten Staaten Amerikas, da er sich aufgrund seiner jüdischen Herkunft von der Machtergreifung der NSDAP bedroht sah. Seine Schriften und Analysen reihen sich in eine humanistische Denktradition ein, die bei ihm stark von Buddha, Jesus, Meister Eckart, Karl Marx, Johann Jakob Bachofen, Sigmund Freud sowie den religiösen Schriften des Judentums geprägt war. Doch was macht Erich Fromm auch 40 Jahre nach seinem Ableben zu einem Sozialphilosophen und Gesellschaftskritiker, dessen Gedanken heutzutage noch treffender als zu seinen Lebzeiten erscheinen?

Zeit seines Lebens setzte er sich analytisch mit den gesellschaftlichen Strukturen der „westlichen Welt“ auseinander und erkannte, dass die vorherrschenden patriarchal-autoritären Verhältnisse nicht auf das Wachstum der menschlichen Entwicklung oder das Wohlbefinden (Glück) der Menschen, sondern auf das Vermehren von Profit und Privateigentum zielen. Anders ausgedrückt: der moderne Mensch wendet seine Zeit und Energie auf, um mehr zu haben, aber nicht, um mehr zu sein, nicht darauf, ein besserer Mensch zu werden.

Um zu verstehen, worauf Fromm abzielte, ist es wichtig zu betonen, dass er nicht jegliche Form des Haben-Wollens verdammte. Schließlich ist der Mensch ein biologisches Wesen, das einen Körper und dementsprechend physiologische Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Obdach und oftmals nach einem Sexualleben hat. Allerdings, und hier knüpfte Fromm an seinen Erfahrungen als Psychoanalytiker an, wird der Mensch allein durch die Befriedigung seiner physiologischen Bedürfnisse nicht glücklich. Fromm stellte fest, dass der moderne Mensch ohne Maß begehrt und ständig neue (überflüssige) Bedürfnisse produziert bzw. diese bei ihm durch Werbung / Manipulation geschaffen werden. Die sozioökonomische Stellung dient ihm als Stabilisator seines Selbstwertgefühls, wobei ihn ständig Ängste vor einem gesellschaftlichen Abstieg begleiten und er von seinen Begehren nach mehr Besitztümern und Prestige getrieben wird. Folglich flüchtet er sich von Egoboost zu Egoboost und verfällt in eine passive Konsumhaltung, in der er sich zunehmend von sich und seiner Umwelt entfremdet. Diese Phänomene zeigen sich in der heutigen Zeit beispielsweise an der permanenten Selbstdarstellung auf sozialen Netzwerken wie Instagram oder dem Verfallen ins Binge Watching, das wir alle nur zu gut kennen. Der Klimawandel und die damit verbundenen aktuellen und bevorstehenden Umweltkatastrophen legen Zeugnis für diese verheerende Charakterstruktur ab.

Erich Fromm sah deshalb nur in einer grundlegenden Veränderung des Gesellschaftscharakters, der sich weg vom Haben-Wollen hin zum Sein entwickeln sollte, eine Möglichkeit, das Überleben zukünftiger Generationen zu sichern. Heutige Bewegungen wie Fridays For Future, die vorwiegend von jungen Menschen vorangetrieben werden, weisen erhebliche Parallelen zum Denken Fromms auf. Nicht erst seit der Erschütterung des Wirtschaftssystems durch die Corona-Pandemie setzen sich Menschen weltweit kritisch mit ihrem eigenen und dem gesellschaftlichen Konsumverhalten auseinander. Sie erkennen, dass die zerstörerische kapitalistische Produktionsweise, die zwar in Relation zur gesamten Menschheitsgeschichte enormen materiellen Wohlstand für große Teile der Weltbevölkerung hervorbringen konnte, sich im Hinblick auf ihre fatalen Folgen als ein Pyrrhussieg entpuppt. Die Möglichkeiten, zu einer solidarischen Gesellschaftsordnung und einer positiven Veränderung des Gesellschaftscharakters zu gelangen, wurden allerdings ebenfalls während der letzten Monate ersichtlich.

Das eigene Leben nun auf das Sein und nicht auf das Haben auszurichten, heißt für Fromm so viel wie Tätigsein im Sinne innerer Regungen und Denkprozesse. Zu dieser Lebensausrichtung am Sein gehören auch das Erfreuen am Leben an sich, die Bezogenheit zur Welt und das Lieben seiner Mitmenschen. Aktivität und Produktivität sind für Fromm demnach keinesfalls im heutigen ökonomischen Sprachgebrauch zu verstehen, nach dem auch der entfremdete Fließbandarbeiter sich aktiv und produktiv zeigt, obwohl er in Wirklichkeit von äußeren Zwängen getrieben wird und keinerlei emotionale Beziehung zu dem aufbaut, was er herstellt. Vielmehr kommt es Fromm auf eine innere Anteilnahme an, die von Außen auch fälschlicherweise als Passivität wahrgenommen werden kann und mit der keine sichtbaren äußeren Veränderungen einhergehen müssen (aber durchaus können). Diese „passive“ Form der Aktivität kann sich beispielsweise beim Betrachten einer Blume oder beim Hören eines Musikstücks äußern, also Tätigkeiten, die keinen Kosten-Nutzen-Kalkulationen folgen und aus Freude, ihrer selbst Willen ausgeübt werden. Auch das Eintauchen in einen Roman oder das Nachempfinden eines Gedichts fallen unter diese Form der produktiven inneren Aktivität. Zeit also, sich wieder an den Bücherschrank zu begeben und sich ins Lesen zu vertiefen. Vielleicht ja mit einem Werk von Erich Fromm.

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