Von fehlender Berücksichtigung – Unsichtbare Frauen

Fragliche Gestaltung: Frauen, die hinter Männern verschwinden – oder langhaarige Superhelden? Umschlagsgestaltung: Semper smile nach einem Design von Sophie Harris.

Vor knapp drei Wochen erschien Unsichtbare Frauen, Caroline Criado-Perez‘ zweites Buch erstmals in deutscher Übersetzung. Ursprünglich 2019 in Großbritannien herausgebracht, wird in diesem ein Phänomen angesprochen, das vielen entweder nicht bewusst ist und es deshalb nicht beachten, oder so offenkundig ist, dass es fast redundant erscheint, es zu erwähnen; das heißt, sofern man es nicht bekämpft: Die Rede ist von fehlender Berücksichtigung der Frau und zwar auf einem sehr tiefgreifenden Feld: Datenerhebung.

Es ist in einer Gesellschaft, deren führenden und bestimmenden Positionen für das Gros der Geschichte männlich geprägt war und ist, keineswegs verwunderlich, dass Frauen in allen Bereichen der Historik unterrepräsentiert sind. So auch auf dem Parliament Square in London, wo der Autorin und Journalistin 2016 aufgefallen sei, dass keine Statuen zur Erinnerung an die Taten großer weiblicher Persönlichkeiten aufgestellt sind; ein Manko, das sie schnellstens in Angriff nahm. Dieser einen Beobachtung folgt die Recherche, in welchen Bereichen noch eine Diskrepanz zwischen den Geschlechtern herrscht, ohne das darüber viel geredet wird.

Das Resultat ist dieses Buch über den Gender Data Gap: Statistiken, Tests, Studien werden zum Großteil mit männlichen Probanden durchgeführt. Bei Handys kommen daher Unbequemlichkeiten zu Stande, wie etwa, dass sie im Durchschnitt zu groß sind für Frauen, oder die Spracherkennung mit tieferen Stimmen besser funktioniert als mit hohen. Lebensgefährlich wird es dagegen im medizinischen Sektor, wenn wegen unterschiedlicher biologischer Feinheiten Medikamente nicht nur gewaltige Nebenwirkungen haben, sondern gleich tödlich sein können. Die Gründe, dass Tests mit Frauen zu umständlich, zeit- und geldaufwendig seien, verraten bestenfalls Unwillen, schlimmstenfalls Fahrlässigkeit und sind für die Autorin nicht nur entrüstend, sondern erzürnend. Sicherheitskleidung gerät zu groß, Gefahrenstoffrichtwerte zu hoch. Das Verletzungs- und Sterberisiko bei Autounfällen fällt höher als bei Männern aus, weil Crash Test Dummies zum Großteil nach deren Durchschnittsmaßen konstruiert sind und die wenigen, auf die es nicht zutrifft, selten zum Einsatz kommen. Entscheidende Daten werden nicht gesammelt. Diese und mehr Fälle der zunehmend digitalen Gesellschaft werden mithilfe von Studien aufgerollt.

Allein schon aus gesunder Skepsis drängt sich bei dieser Aufzählung die Frage auf (bzw. sollte sich aufdrängen), ob alle Probleme einzig auf den Missstand zwischen den Geschlechtern in der Datenerhebung zurückzuführen sind, oder nicht auch auf Abweichungen von Durchschnittswerten überhaupt oder gar auf eine Kombination vieler Faktoren: Haben Frauen Schwierigkeiten mit der Größe von Smartphones oder nicht generell alle Menschen, deren Hände von einer wie auch immer aufgestellten Norm abweichen? Sind Männer im Nachteil bei niedrig installierten Arbeitsplatten oder große Menschen? Gibt es für Frauen spezifische Faktoren, die das Unfallrisiko sonst noch erhöhen? Für welche Länder gelten die Recherchen und Studien, die im Buch auftauchen, sobald non-globale Vorgänge in Augenmerk genommen werden? Wie aussagekräftig sind die Studien, auf die sie sich bezieht?

Sind Mediziner schuldig, weil ein Herzinfarkt bei einer Frau durch fast jedes Symptom unter der Sonne bemerkbar werden kann und folglich missinterpretiert wird? Die Autorin liegt keineswegs falsch, wenn sie die Forschung in diesem Felde ankreidet. Immerhin ist es die gesellschaftliche Pflicht und Verantwortung der Medizin, wirksame Behandlungen und Diagnosen zu entwickeln und bereits vorhandene zu verbessern; und zwar für alle, nicht nur Männer, ungeachtet der Umstände. Dasselbe lässt sich über alle anderen Felder sagen, auf die sie sich bezieht. Man sollte lediglich Vorsicht walten lassen; die Gefahr, dass bei aller Legitimität vereinfachende und ggf. unfaire Statements abgegeben, Schlüsse gezogen und/oder Forderungen gestellt werden, besteht.

No one ever changed the world by being nice“, sagt Caroline Criado-Perez, die hofft, das Unsichtbare Frauen zu dem Werk wird, für das sie in Erinnerung bleibt. Verständlich, da das Bemühen um Gleichberechtigung im Angesicht einer männlich dominierten Historie nichts anderes als ein Kampf ist; im Krieg seien ja bekanntlich alle Mittel erlaubt. Wie tiefgreifend der Gender Data Gap ist, wie stichhaltig die Studien sind und wie unfair sich ihr Buch wirklich herausnimmt, wenn überhaupt, lässt sich nur herausfinden, in dem man es liest. Es ist erschienen bei btb und kostet 15 Euro.

 

Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert, btb Verlag, München 2020

496 Seiten

ISBN 978-3-442-71887-0

15 Euro

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