Probleme mit Lolitas kulturellem Erbe

Lolita ist eins dieser Bücher, von denen man auch gehört hat, wenn man nicht zur lesebegeisterten Masse zählt. Das ist wohl vor allem dem schockierenden Sujet Lolitas zuzuschreiben: Pädophilie. Der arbeitslose Literatur-Professor Humbert Humbert verfällt Hals über Kopf der zwölfjährigen Tochter seiner Gastgeberin und beginnt eine Affäre mit ihr. Obwohl das Wort Affäre schon zu einvernehmlich anmutet. So sehr Humbert Humbert es auch zu rechtfertigen versucht – Lolita sei in ihn verknallt, sie habe schon vorher sexuelle Erfahrungen gemacht, sie verführe ihn und nicht andersherum – im Grunde ist es eine Geschichte von jahrelangem sexuellem Missbrauch.

Wieso ist Lolitas kulturelles Nachleben dann ein ganz anderes?

Natürlich ist nicht pauschal zu sagen, dass mit Nabokovs Buch falsch umgegangen wird. Wer entscheidet schon, was die geneigte Leserschaft aus einem Stück Literatur mitnimmt?

Und doch finde ich es bezeichnend, dass meine eigene erste Berührung mit dem Begriff Lolita nichts mit dem Buch oder seinem grauenvollen Inhalt zu tun hatte, sondern mit Fashion. Die sogenannte Lolita Mode ist ein Stil, der in Japan sehr beliebt ist und seine Inspiration aus Kinder-Kleidung zieht. Zwar spielt als modisches Vorbild dabei laut Wikipedia eher Alice aus Alice im Wunderland eine Rolle, dennoch ist die namentliche Anspielung auf Nabokovs Figur unleugbar. Erwachsene Frauen in Mädchenkleidern scheinen, wenn auch unbeabsichtigt, in diesem Kontext plötzlich etwas zu sagen über Reife und Erscheinungen.

Damit scheint jedoch niemand ein Problem zu haben.

Auch schon als das Buch herauskam, betonten viele zeitgenössische Kritiken lieber den ‚lustigen‘ absurden Charakter des Buches, der vor allem durch Humberts clevere Wortspiele entsteht, als die tatsächliche Schwere des Geschehens. So ist die erste Verfilmung von Lolita, die ab 12 freigegeben ist und schnell eine 16-Jährige aus ihr machte, eine dunkle Tragikomödie anstatt eines Psycho-Thrillers geworden.

Werke in diese Richtung kamen erst später und mit einem ganz anderen Twist:

Lolita als die eigentliche Verursacherin allen Übels.

The Crush von 1993 ist seit seiner Veröffentlichung ein Kult-Film, der seine Lolita-Verwandtschaft kaum verbergen kann. Der Journalist Nick Eliot trifft auf die vierzehnjährige Tochter seiner Vermieter, Adrian. Die beiden flirten und es kommt sogar zum Kuss. Dann jedoch geht Nick auf Abstand, da ihm der Altersunterschied zu heikel ist. Adrian ist allerdings inzwischen besessen von Nick und tut alles, um ihm näher zu kommen. Obwohl The Crush im Vergleich zu Kubricks Lolita zumindest das richtige Genre trifft, wird darin der eigentliche Missbrauch auf den Kopf gestellt.

Adrian wird zur durchtriebenen Verführerin, zur Femme Fatale, der der Protagonist geradezu hilflos erliegt. Eine Ikonographie die sich in anderen Filmen wie Léon der Profi, American Beauty oder Poison Ivy fortsetzt. Nicht immer auf gleiche Art und Weise und in variierendem Grad an Verschlagenheit – aber dennoch konstant in der Tatsache, dass minderjährige Frauen als die sexualisierten Initiatoren von ‚unanständigen‘ Verhältnissen dargestellt werden. Nicht zu selten bedeutet es den Untergang des Mannes, wenn er sich darauf einlässt.

Es scheint Hollywood ist interessierter an der pikanten Erotik der Lolita-Thematik, als an den fürchterlichen Konsequenzen, die ein solches Verhältnis tatsächlich mit sich führt. Dabei ist das Buch selbst, vor allem nach heutigen Standards, eher scheu und beinhaltet keine graphischen Sex-Szenen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Humbert Humbert sich gen Ende doch der eigenen Verantwortung bewusst wird.

Wie also dann umgehen mit Lolita?

Heutzutage hat sich der gesellschaftliche Blick auf Altersunterschiede in Beziehungen – und besonders auf Verhältnisse mit Minderjährigen – noch einmal stark verschoben. Vor dem Hintergrund der #MeToo Debatte sind die ausbeuterischen Aspekte, das starke Machtgefälle, zwischen jungen Frauen und älteren Männern vielen um einiges bewusster geworden. Behandelt man Lolita unter dieser Lupe, hat das Buch noch mehr zu bieten als skandalöse Verlangen: Die Sehnsucht nach Jugend, die (Nicht-) Verarbeitung von Trauma und wie einfach es ist, in patriarchalen Strukturen einem Sexualstraftäter in die Hände zu geraten.

Darstellungen von der Femme Fatale im Teenageralter sind vermutlich nicht aus der Welt, aber werden so eher als das erkannt, was eigentlich dahintersteht: Junge Mädchen, die es nicht besser wissen und Männer, die es sollten.

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