Seit ich mich erinnern kann, ziert das große „B“, das so aussieht als würden drei Bücher übereinanderliegen, die Einkaufsstraße in meinem Heimat-Stadtteil. Bücher Schirrmeister steht über einem der beiden Schaufenster, in denen man einen ersten Eindruck bekommt, was es hier zu lesen gibt – nämlich so gut wie alles, was in einem Vorstädter-Bücherregal so zu finden ist. Das neueste Buch von Peter Maffay, die „Ernährungsdocs“, jede Menge Kinder- und Jugendbuchliteratur und natürlich Krimis. „Die gehen am besten“, verrät mir Helen Schirrmeister, die gemeinsam mit ihrem Mann Michael Schulden die Buchhandlung führt. Mitte der neunziger hat sie das 1977 gegründete Geschäft von ihren Eltern übernommen. Ihre Mutter sitzt heute noch morgens im Laden und sortiert die neu eingegangenen Bücher. Zu Beginn im nahe gelegenen Einkaufszentrum beheimatet, liegt die Buchhandlung nun in einer geschäftigen Seitenstraße. Ein Haus weiter wirbt der Optiker mit einer großen Brille über seinem Geschäft. Wie passend. Wer mit neuer Sehstärke ausgestattet ist, könnte diese doch direkt nebenan testen gehen, sollte man meinen. Doch viel Laufkundschaft verschlägt es nicht in den urigen Buchladen. Hier stehen rund 5.000 Bücher auf 65 Quadratmetern Ladenfläche. Würde jeder der 7.700 Einwohner von Überruhr-Hinsel hier seine Bücher kaufen, bräuchte es wohl noch ein paar zusätzliche Regale.
Digitale Konkurrenz durch independent publishing
Leider bleibt der Satz im Konjunktiv, denn was für so viele lokale, unabhängige Geschäfte gilt, merkt man auch bei Bücher Schirrmeister. Der Online-Riese mit dem großen „A“ macht den Einzelhandel platt. Und das nicht nur indem er die bequemen Onlineshopper mit einer „Lieferung-am-nächsten-Tag“-Buchsendung erfreut. Da können die Buchhandlungen nämlich mithalten. „95% der aktuellen Titel können wir so bestellen, dass sie am nächsten Tag da sind“, erklärt Helen Schirrmeister. „Das Problem ist das zunehmende independent publishing. An Bücher, die beim Onlinehändler selbstständig verlegt werden, kommen wir nicht ran. Da muss ich den Kunden dann schweren Herzens sagen, dass sie den gewünschten Titel bei Amazon kaufen müssen.“
Doch auch die Verlage selbst machen es den Buchhändlern nicht leicht. Die einstige symbiotische Beziehung zwischen Buchverlag und -handel wird durch das Internet aufgebrochen. „Die Verlage brauchen uns nicht mehr. Während die Buchhandlungen früher für das Präsentieren und Verkaufen der Ware verantwortlich und die Verlage auf das Geschäft angewiesen waren, übernimmt diese Funktionen heute das Internet. Es wird zunehmend über die verlagseigene Homepage an den Endkunden verkauft.“
Der kleine Laden in Überruhr-Hinsel lebt von seinen Stammkunden. Die Altersstruktur des Stadtteils kommt dem Geschäft dabei zugute. 30 Prozent sind 65 Jahre oder älter. Kunden also, die den persönlichen Kontakt und eine individuelle Beratung beim Buchkauf noch zu schätzen wissen. Eine verlässliche Einnahmequelle sind zudem Schulbücher. Die Grund- und Realschule sowie das Gymnasium in unmittelbarer Nähe bescheren der Buchhandlung, trotz geringer Gewinnmarge aufgrund sinkender Rabatte von den Verlagen, ein gutes Geschäft zu Beginn jeden Schuljahres.
Hogwarts in Hinsel
Meine schönste Kindheitserinnerung in Bezug auf Bücher habe ich diesem Laden zu verdanken und nein, es waren nicht die eigenen Schulbücher, die meine Kindheit geprägt haben. Und doch absolvierte ich sieben zusätzliche Schuljahre, in denen ich viel über Zaubersprüche, Besenflugmanöver, phantastische Tierwesen und dunkle Künste gelernt habe. Helen Schirrmeister und ich versuchen uns gemeinsam zu erinnern zu welchem Harry Potter-Band die mitternächtliche Verkaufsaktion begonnen hat. Bei den ersten beiden kann es noch nicht gewesen sein. „Wir hatten einen sehr netten Carlsen-Vertreter, der mir damals Harry Potter in die Hand gedrückt hat mit den Worten ‚dieses Buch musst du lesen‘. Ich habe 10 Exemplare bestellt, aber hatte solche Mühe sie loszuwerden, dass ich vom zweiten Band nur noch 5 Stück im Regal hatte“, erinnert sich die Ladenbesitzerin.
Es muss wohl zum Erscheinungstermin von Harry Potter und der Feuerkelch gewesen sein, als der Zauberlehrling-Reihe der weltweite Durchbruch gelang und meine Mutter meinen Bruder und mich um zwölf Uhr nachts ins Auto gesetzt hat, um unseren vorbestellten Band abzuholen. Bei Bücher Schirrmeister angekommen begrüßte uns eine Frau mit Umhang, Spitzhut und Besen in der Hand. Zwischen samtenen Vorhängen, die mit Spinnenweben aus Watte überzogen waren, verkaufte uns eine ebenfalls verkleidete Hexe das neueste Werk von J.K. Rowling. Aus einem Glas auf dem Verkaufstresen beobachteten mich Weingummi-Augäpfel während ich auf einem Vampirgebiss rumkaute.
Mein Weg nach Hogwarts führte mich weder über die Nokturn- noch durch die Winkelgasse. Und doch sind beide Zauberereinkaufsstraßen hier irgendwie vereint: Im Nockwinkel 101 findet jede Leseratte und jeder Bücherwurm den Eingang in ganz neue (Fantasie-) Welten. Ich frage mich wie viele der Leute, die die Harry Potter-Bände per overnight-Lieferung nachts vom Paketboten zugestellt bekommen haben, sich an diesen Moment erinnern. Denn trotz der liebevoll gestalteten Verkaufsaktion haben mehr als doppelt so viele Stadtteilbewohner um Mitternacht dem Amazon-Boten die Tür geöffnet, anstatt das Buch bei der Essener Verkaufsvertretung von Flourish & Blotts zu kaufen. Also liebe Studierende und Internetsurfer, seid keine ignoranten Dursleys und kauft eure Bücher doch bitteschön beim Buchhändler um die Ecke!
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