Vor kurzem hat mein Freund angefangen, The Witcher 3 zu spielen. Selbst mich als Unkundige ziehen die atmosphärische Grafik und Musik des Videospiels in ihren Bann. Die Hauptfigur in diesem storybasierten Computerspiel ist ein muskelbepackter Magier, der Hexer. Mit seinem Titel und seinen magischen Fähigkeiten enden auf den ersten Blick allerdings die Gemeinsamkeiten mit archetypischen Hexenfiguren. Anstatt auf einem Besen reitet er auf seinem Pferd Plötze durch die mittelalterliche Fantasy-Welt, seine Bekleidung ist die eines Kriegers, und vor allem eine Sache bringt mich zum Nachdenken: Hexen, das sind doch eigentlich Frauen, oder?
Von hässlichen und verhassten Hexen
Der Duden scheint meiner Annahme zuzustimmen. Zwei der drei Definitionen zur Hexe beinhalten das Wort „weiblich“. Außerdem wird sie als hässlich, alt, dämonisch, bucklig und im Besitz von Zauberkräften beschrieben. Keine großartigen Überraschungen. Die Bedeutungserklärung zum Wort Hexer fällt dagegen verhältnismäßig knapp aus: „männliche Hexe“, heißt es da.
Im Hexenglauben des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit sieht es schon etwas anders aus: Obwohl wir heute oft annehmen, dass fast ausschließlich Frauen der Hexenverfolgung zum Opfer fielen, variiert die tatsächliche Geschlechterverteilung unter den Verfolgten je nach Region. Insgesamt überwiegt der Frauenanteil zwar, ein Blick nach Island oder Russland zeigt jedoch auch andere Beispiele: Dort waren mehr als Dreiviertel der wegen Hexerei Verurteilten männlich. In Deutschland hingegen war der Frauenanteil deutlich größer. Hier betrafen nur etwa zwanzig Prozent der Hexereianklagen Männer.
Wenn mehr weibliche Hexen verfolgt wurden, ist das dann als ultimatives Symptom einer misogynen Gesellschaft zu verstehen? War die Hexenverfolgung am Ende sogar ein willkommener Vorwand, um unangepasste Frauen loszuwerden? Darüber haben sich auch Forschende bereits Gedanken gemacht und es gibt durchaus Ansätze, die in diese Richtung argumentieren. Andere halten jedoch dagegen, dass die Theologie schon Jahrhunderte zuvor frauenfeindlich eingestellt war. Ohne eine bemerkenswerte Verstärkung dieser Tendenzen, die mit dem Beginn der Hexenverfolgung im großen Stil einhergeht, erscheint ihnen ein Zusammenhang unschlüssig. Trotzdem kann eine misogyne gesellschaftliche Grundeinstellung die Anschuldigungen von Frauen natürlich erleichtert haben.
Unabhängig davon, ob Hexenerzählungen ursprünglich frauenfeindliche Motive zugrunde liegen oder nicht, ist das archetypische Bild der weiblichen Hexe kein positives. Die Kannibalin aus dem Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel, Shakespeares drei Hexen aus Macbeth, die durch ihre Prophezeiung das Unheil ins Rollen bringen, und die Böse Hexe des Westens aus Der Zauberer von Oz, die bereits in der ersten Verfilmung ihre charakteristisch grüngefärbte Haut erhielt: Allesamt alte und hässliche Frauen, die sich abseits der Zivilisation befinden und Schaden anrichten. Sie erscheinen mir als der Inbegriff der klassischen westlichen Hexenfigur.
Die Hexe poliert ihr Image auf
Vor allem in der Kinderliteratur hat sich jedoch längst eine neue Hexenfigur entwickelt. Frauen und Mädchen mit besonderen Fähigkeiten, die ihre Kräfte wohlwollend einsetzen und versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Die modernen Hexen verkörpern meistens keine abstoßenden Mütterchen mehr, sondern zeigen sich als geschickte Heldinnen wie Bibi Blocksberg oder Hermine Granger.
Als eine der ersten „neuen Hexen“ macht sich 1957 Otfried Preußlers kleine Hexe bei den anderen Hexen unbeliebt, indem sie ihre Kräfte für gute Taten einsetzt. Typische Hexenmerkmale werden zwar beibehalten, doch in veränderter, liebevoller Form umgesetzt: Obwohl die kleine Hexe bereits 127 Jahre alt ist, gilt sie für eine Hexe noch immer als jung. Sie wohnt in einem windschiefen Hexenhaus, doch anstatt darin hinterlistige Pläne auszuhecken, studiert sie akribisch ein altes Zauberbuch.
Ähnlich sieht es bei ihren Nachfolgerinnen aus: Bibis Besen heißt Kartoffelbrei, den mystischen Hexentreffpunkt Blocksberg trägt sie als Nachnamen und Gerichte wie Spinnenbeinsuppe aus der traditionellen Hexenküche schmecken ihr nicht. Harry Potters beste Freundin Hermine ist zwar eine herausragend begabte Zauberschülerin, aber mit dem Flugbesen, der auch ihr im ersten Teil der Reihe in die Hand gedrückt wird, kann sie nur wenig anfangen. Überhaupt wimmelt es in ihrer Zauberwelt von stereotypen Hexenattributen wie Kröten und Katzen, Zaubertränken und Kristallkugeln, Spitzhüten und Umhängen, doch all das wird gleichermaßen den Hexen wie den Zauberern zuteil und so zu Alltagsgegenständen umgedeutet.
Eine Welt voller Hexensagen
Ein Punkt sollte in diesem Gesamtkontext nicht außer Acht gelassen werden: Alle Hexenbilder, über die ich mir hier Gedanken mache, sind geprägt von meiner westlich-europäischen Sozialisierung. Aber natürlich haben Hexensagen nicht nur hierzulande eine lange Tradition. Zahlreiche Kulturen auf allen Kontinenten sind reich an ihren eigenen Legenden und Überlieferungen über Hexenwesen und Zauberkräfte. Manche Darstellungen ähneln dabei den westlichen Bildern. Die yama-uba, nur eine der verschiedenen Hexenfiguren japanischer Mythologie, bezeichnet zum Beispiel eine unserem westlichen Stereotyp ganz ähnliche alte, hässliche Menschenfresserin, die zurückgezogen in den Bergen lebt. Auch ihre Gestalt ist jedoch im Laufe der Überlieferung mehrfach uminterpretiert worden.
Nicht immer handeln die Hexengeschichten aber von diffusen Sagengestalten. Der Glaube an okkulte Mächte beeinflusst in vielen Kulturen auch das alltägliche Leben. In einer Recherche vom August dieses Jahres zählt das katholische Hilfswerk missio 36 Länder, in denen gegenwärtig Hexenverfolgungen praktiziert werden, darunter Mexiko, Nigeria, Indien und Papua-Neuguinea.
Eins ist klar: Einer Figur, die so vielen teils voneinander unabhängigen Vorstellungen unterliegt, können ganz unterschiedliche Bedeutungen zukommen. Wie verstehe ich nun das Hexenbild, von dem ich umgeben bin?
Warum moderne Hexen feministisch sind – aber keine Frauen sein müssen
Unsere westliche Hexe jedenfalls ist überwiegend weiblich dargestellt. Vielleicht eignet sie sich genau deswegen besonders gut als feministische Frauenfigur. In ihrer generalüberholten Form verkörpert die Hexe das Vorbild einer unabhängigen und begabten Frau. Anstatt sich als Magierin oder Zauberin die Titel ihrer Kollegen zu leihen, erhält sie ihren eigenen gleichwertigen Namen. Besser noch: Sie hat sich eine vormals herabwürdigende Bezeichnung zu eigen gemacht. Es ist ein bisschen wie mit dem Make-Up und den Minikleidern: Eine Frau muss nicht ungeschminkt und im Hosenanzug auftreten, um sich die gleichen Rechte zu verdienen wie ein Mann. Dafür ist die moderne Hexe ein exzellentes Beispiel. Als Figur, die einen weiblich konnotierten Namen trägt, wird sie zur Heldin vieler Geschichten. Damit verstärkt sie ein wichtiges feministisches Prinzip: Nur wenn stereotype Symbole der Weiblichkeit keine Grundlage dafür sind, dass eine Person weniger ernst genommen wird, herrscht tatsächliche Gleichberechtigung.
Umso wichtiger werden die Hexer in diesem Zusammenhang. Obwohl es oft vergessen wird: Feminismus setzt sich auch für eine Revolution des Männlichkeitsbegriffs ein. Zwar ist die Hexe oft weiblich, aber sie muss es nicht sein. Ganz im Sinne der Gleichberechtigung steht allen Geschlechtern der Zugang zu dieser Bezeichnung frei und jede Geschichte über Hexen hat das Potenzial ein ganz eigenes Verständnis der Figur zu entwerfen. Wie sich also Magierinnen und Zauberinnen ursprünglich männlich konnotierter Namen bedienen, funktioniert es auch umgekehrt. Wir dürfen gespannt sein, wann uns die ersten diversen, genderneutralen und non-binären Hexenfiguren begegnen.
Meine Frage, ob Hexen nicht eigentlich Frauen sind, beantwortet sich also nicht nur mit einem „Nicht immer“, sondern mit einem „Nicht immer, und das ist auch gut so“. Liebe Hexer und Hexenwesen aller Geschlechter, bitte fühlt euch willkommen auf der nächsten Halloweenparty (im nächsten Jahr, wenn der Pandemiespuk hoffentlich ein Ende hat). Denn Hexen gehören neben Vampiren, Gespenstern und Skeletten längst zum festen Ensemble der Saison, höchste Zeit, dass ihr auch dazukommt!
Auf der Suche nach einem guten Buch stöbert sie am liebsten in Antiquariaten und öffentlichen Bücherschränken. Neben Literatur interessiert sie sich für Nachhaltigkeit und intersektionalen Feminismus und träumt davon, eines Morgens mit einem grünen Daumen aufzuwachen.