20 Jahre Wikipedia: Zitiersünde und literarische Schatzkiste

Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz zeigt den literarischen Wert von Wikipedia. Bild: Eva Beckmann

Wo liegt eigentlich Bandakouni? Wer war Franziska Tiburtius? Und wann ist Goethe noch gleich geboren? Wikipedia kennt die Antworten auf fast all unsere Fragen. Doch obwohl die Online-Enzyklopädie im Februar an siebter Stelle der in Deutschland am häufigsten aufgerufenen Internetseiten stand, bleibt ein allgemeiner Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Aus der Wikipedia zu zitieren jedenfalls, gilt als eins der größten Tabus der Wissenschaft.

In diesem März ist die deutschsprachige Wikipedia zwanzig Jahre alt geworden und mit ihr ist eine Generation herangewachsen, für die ein Leben ohne das ständig verfügbare Lexikon unvorstellbar ist. Allgemeinbildung auf einen Klick. Trotz aller Kritik an fehlerhaften Einträgen ist das Ansehen von Wikipedia in den vergangenen Jahren gestiegen. Längst schlägt der Umfang die Ungenauigkeiten. Mit aktuell 2.554.729 Artikeln gehört die deutschsprachige Wikipedia zu den vier umfangreichsten Sprachversionen der Enzyklopädie.

Wikipedia zu konsultieren ist Alltag. Wikipedia zu zitieren bleibt jedoch verpönt. Aber gilt das auch für die Literatur? In seinem 2014 veröffentlichten Gedichtband Die Vogelstraußtrompete stellt Clemens J. Setz genau dieses ungeschriebene Gesetz auf die Probe. Mit einem Zitat aus dem englischsprachigen Wikipedia-Artikel über eine Straßenlaterne in Cambridge, die „Reality Checkpoint“ genannt wird, leitet er den Band ein. Der Ausschnitt verweist auf eine Kontrolle, der sich Wikipedia und Literatur immer wieder unterziehen müssen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Ihr jeweiliges Verhältnis zur Realität wird ständig in Frage gestellt. Was dürfen wir der Wikipedia glauben? Was können wir aus einem literarischen Text für unser Leben mitnehmen?

Auch das erste Gedicht im Band ist ein Zitat, das wörtlich aus einem Wikipedia-Artikel stammt. In zwölf Versen erzählt es die tragische Geschichte von Bibi Blocksbergs vergessenem Bruder Boris. Inzwischen scheint sich der Wortlaut auf Wikipedia zwar leicht geändert zu haben, doch Setz bestätigt, er habe den Text nur visuell in Gedichtform gebracht und als Überschrift „Die Nordsee“ gewählt.

Die Vogelstraußtrompete ist eine Sammlung von Texten, die Setz „Fundstückgedichte“ nennt: Ausschnitte und Anekdoten deren Ursprung nicht immer erkennbar ist. Referenzieren ohne Quellenangabe, Informationen aus Wikipedia übernehmen – in der Wissenschaft ein Skandal. Doch Setz ist Literat. Wichtiger als inhaltliche Richtigkeit sind für seine Texte die Gedanken und Gefühle, die sie anregen. Die meisten Anekdoten im Band reichert Setz mit eigenen Worten und Gedanken zu fertigen Gedichten an, der Wikipedia-Ausschnitt über Boris Blocksberg berührt jedoch schon in seiner unveränderten Form. Durch die neue Anordnung in Versen rückt der Autor diese zweite Ebene in den Vordergrund. Mit seinen Fundstücken beweist Setz, dass Literatur überall sein kann. Sogar auf Wikipedia.

Feststeht, auf Wikipedia gibt es allerlei unterhaltsame Anekdoten zu entdecken. So können wir dort über Konrad Adenauers bescheidene Karriere als Erfinder einer Sojawurst und einer Gießkannentülle lesen und erfahren, was es bedeutet, wenn in Linz jemand „Zwergerl schnäuzen“ geht. Wer sich nicht stundenlang durch den Wikipedia-Dschungel klicken möchte, um auf interessante Kuriositäten zu stoßen, sollte einmal Die Vogelstraußtrompete zur Hand nehmen, denn Clemens Setz hat bereits zahlreiche Anekdoten und Gedanken gesammelt, die zum Mitfühlen, Nachdenken und Schmunzeln anregen.

Ein Kommentar

  1. Sehr lesenswert!
    Müsste Wikipedia nicht gesellschaftsfähiger werden?
    Ich fände es gut, wenn die Verfasser der Artikel namentlich bekannt wären.

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