Zweimal habe ich in meiner Kindheit den ersten Platz gemacht. Zwei glänzende Pokale gewonnen. Beide beim Vorlesewettbewerb in der Grundschule. Dass Lesen und Konkurrenz keine Widersprüche sind, war mir also schon früh klar. Wenn ich flüssig lese, besser als der Rest der Klasse, mitreißender als die Schüler:innen aus den Parallelklassen, dann wartet ein Pokal auf mich. Für mich bedeutete der Vorlesewettbewerb mehr Euphorie als Stress – aber ich gehörte ja auch zu den Gewinnerinnen, zu denjenigen Kindern, denen das Lesen leichtfiel und die zuhause Unterstützung beim Lesenlernen erfahren hatten. Nach der sechsten Klasse hörten die Vorlesewettbewerbe auf. Wie ein Wettkampf fühlt sich das Lesen bisweilen trotzdem noch an.
Goodreads und die Quantität des Lesens
Zum Anfang des Jahres richte ich meine Goodreads Reading Challenge ein. Mein Ziel ist es, genauso viele Bücher zu lesen, wie im vorherigen Jahr geschafft. Goodreads ist ein soziales Netzwerk für Lesebegeisterte. Auf meinem Account kann ich verfolgen, wie ich meinem Jahresziel näher rücke, ob ich im Lesetempo zurückliege und wie nah meine Freund:innen ihren eigenen Lesezielen sind. Ich kann sehen, wie viele Bücher ich im vergangenen oder laufenden Jahr bereits gelesen habe, wie viele Seiten sie im Durchschnitt und insgesamt haben. Und all das kann ich mit den Statistiken anderer Leser:innen vergleichen. Goodreads stellt die Quantität des Lesens gnadenlos in den Vordergrund.
Bookstagram und Lesestress
Oberflächlichkeit und ungesunde Vergleiche sind in der Welt der sozialen Medien kein neues Thema. Vor allem Instagram steht dabei regelmäßig in der Kritik. Meistens geht es um die Inszenierung von Schönheit oder privilegierten Lebensstilen, die – oft durch bearbeitete Bilder verstärkt – unrealistische Ideale vermitteln.
Die Büchernische auf der Plattform nennt sich Bookstagram. Dazu gehören Kanäle, auf denen es um den Austausch von Leseerfahrungen geht. Blogger:innen präsentieren monatlich Stapel der von ihnen gelesenen oder neu gekauften Titel, schreiben Rezensionen zum frisch ausgelesenen Roman, posten sogenannte Shelfies (Fotos ihrer oft riesigen und prall gefüllten, vielleicht nach Farben sortierten Bücherregale) und teilen ihre Vorfreude auf die Titel der neuen Frühjahrsprogramme. Längst haben Verlage das Werbepotential dieser Profile entdeckt und senden den Blogger:innen Rezensionsexemplare ihrer Neuerscheinungen zu.
Je mehr solcher Accounts ich folge, desto mehr Beiträge über immer mehr Bücher sammeln sich in meinem Feed. Desto mehr macht sich das Gefühl breit, mich nur dann wirklich als Leserin bezeichnen zu dürfen, wenn ich mit der Menge der Bücher, die andere lesen, mithalten kann. Desto stärker wird Lesen von einer Leidenschaft zum Stressfaktor.
Wettlesen im Meer der Shelfies
Mit diesem Gefühl bin ich nicht allein. Obwohl bei Bookstagram echte Leseerfahrungen und eine geteilte Leidenschaft im Vordergrund stehen und sogar Leseflauten thematisiert werden, misst sich hier vieles in Zahlen: Da wird der „Lesemonat Januar“ unter einem Bild von einem Bücherstapel rekapituliert und ein Monat, in dem nur vier Bücher gelesen wurden, gilt als „Durchhänger“. Dass die 10 Jahreshighlights mehr Bücher sind als viele Menschen in einem ganzen Jahr lesen, lässt sich im bunten Meer der Shelfies leicht vergessen. Als die Bloggerin Ursula Schwalb (@lese_verliebt bei Instagram) zum Jahresende 2021 ihre Lesestatistiken unter einem Instagram Post teilt, weist sie darauf hin, wie wichtig es ist, sich nicht von anderen Leser:innen unter Druck gesetzt zu fühlen. Sie schreibt: „es sollte immer Spaß machen und #bookstagram ist kein Wettbewerb“.
Am Ende zählt die Leidenschaft
Ich persönlich muss noch lernen, mich dem Druck von Goodreads und Bookstagram vollends zu entziehen. Wieso ich die Plattformen überhaupt nutze? Weil Konkurrenz nicht nur stresst. Wenn das Gegeneinander in den Hintergrund rückt, kann die gemeinsam gelebte Begeisterung für das Lesen bereichernd sein. Das ist auch der Grund, aus dem der Börsenverein des deutschen Buchhandels alljährlich den bundesweiten Vorlesewettbewerb für Schüler:innen der sechsten Klassenstufen veranstaltet: Lesefreude und Lesemotivation sollen gefördert und Kinder für erzählende Literatur begeistert werden. In meiner Kindheit ist das gelungen. Seitdem ist Lesen vor allem eins für mich: Eine Leidenschaft, die mir weder Stress noch Leseflauten nehmen können. Eine Leidenschaft, der es egal ist, ob ich drei oder 122 Bücher in einem Jahr lese. Was zählt, sind die Freude und Bereicherung, die sie mir bereiten.
Auf der Suche nach einem guten Buch stöbert sie am liebsten in Antiquariaten und öffentlichen Bücherschränken. Neben Literatur interessiert sie sich für Nachhaltigkeit und intersektionalen Feminismus und träumt davon, eines Morgens mit einem grünen Daumen aufzuwachen.
Ich habe als Kind gern und viel gelesen, aber Vorlesewettbewerbe waren der Horror, weil ich für mein Stottern gemobbt wurde. Bücher waren und sind meine eigene kleine Bubble, in der ich gut genug bin.