Deine To-Do-Liste wird einfach nicht kürzer, Weihnachtgeschenke müssen auch noch her und du liest täglich Nachrichten zur Corona-Pandemie? Das Gefühl der Überforderung und eine Blutbahn voller Stresshormone überraschen da nicht wirklich. Anders geht’s wohl nicht: Become the best version of yourself – das funktioniert eben nur, wenn du funktionierst – und zwar ohne Pause. Oder? Dass das ein Trugschluss ist, wird in Svenja Gräfens Buch „Radikale Selbstfürsorge – Jetzt!“ schnell klar. Doch es geht um mehr. Es geht auch um „eine feministische Perspektive“ – der Untertitel des Buches. Wer Svenja Gräfen nicht bereits als Romanautorin oder Slam-Poetin gelesen oder gehört hat, sollte sie mit diesem Buch kennenlernen. Und wer von Selfcare nichts hält, sollte es trotzdem lesen – oder gerade dann.
Selfcare: Gar nicht so einfach
Unter #Selfcare springen mir bei Instagram Teetassen, Gesichtsmasken und schnörkelige Sprüche entgegen. Ich verstehe, warum Svenja Gräfen „Selbstfürsorge“ bevorzugt. Denn: Mit jedem Begriff verbinden wir Bilder. Was verstehst du, liebe*r Leser*in, unter Selfcare? Eine Wellness-Behandlung? Ein heißes Bad mit Duftkerze? Eine Meditation? Wenn du dir die Zeit dafür nimmst, hast du vielleicht trotzdem schon folgende Erfahrung mit ‚Selfcare‘ gemacht: Dir geht es beschissen, du bist traurig oder wütend und, klar, du willst dich besser fühlen. Doch nach der zielgerichtet angewandten Selfcare-Einheit ist das Gefühl: nicht wirklich besser. Vielleicht ist deine Rückenmuskulatur weniger verspannt, aber dein Kopf ist es nach wie vor.
Immer schön produktiv sein
Das Problem? Nun ja, kurz gesagt: Wir leben nun mal in einer kapitalistischen Konsum-Gesellschaft. Wir haben die „Hustle-Kultur“ – so nennt es Svenja Gräfen – verinnerlicht. Heißt: Sich immerzu selbst zu optimieren und produktiv zu sein. Selbst bei der Selbstfürsorge haben wir hohe Erwartungen an uns, wir wollen es ‚richtig‘ machen, uns optimieren, uns verändern. Jetzt denkst du vielleicht: Okay, also ist diese Form von Selfcare falsch? Das Ding ist: Es gibt kein richtig und kein falsch. Es gibt kein für jede*n gleich gut anwendbares Rezept für Entspannung. Das ist es nicht, was du in „Radikale Selbstfürsorge – Jetzt!“ findest. Svenja Gräfens Buch ist voll mit So-fühl-ich-auch-Momenten. Sie gibt keine Anleitung, kein ‚In 10 Schritten zum neuen Ich‘. Was du findest sind wertvolle Impulse und eine neue Perspektive auf deinen Umgang mit dir selbst.
Auf kleine Schritte kommt es an
Okay, aber was stellt sich Svenja Gräfen denn nun vor unter Selbstfürsorge? Es geht darum, deine Bedürfnisse kennenzulernen und es bedeutet, nachsichtig mit dir zu sein. Auch, wenn du dich anders verhältst als es optimal wäre. So weit, so… gar nicht mal einfach. Moment, aber was ist denn nun radikal? Schließlich heißt das Buch „Radikale Selbstfürsorge“? Yes, und damit meint Svenja Gräfen: umfassend. Es bedeutet nicht, von einem Tag auf den anderen Master of Selbstfürsorge zu werden. Im Gegenteil: Der Weg zu radikaler Selbstfürsorge ist kein Aufzug – schwupp, bist du oben – vielmehr ist es ein „nie endender Prozess“, wie sie schreibt. Auf kleine Schritte kommt es an.
Ist Selbstfürsorge egoistisch?
Doch Stopp! Womöglich ist dir Selbstfürsorge oder Selfcare – wie auch immer du es nennen willst – ganz fremd? Du hast gar keine Zeit für sowas. Oder: Du hältst diese Ich-Zeit für egoistisches Eso-Zeug und überhaupt: Wie können sich Leute überhaupt gut fühlen bei all dem Scheiß, der aktuell passiert? Man muss ja nur die Nachrichten öffnen, um zu sehen, wie schlecht es vielen Menschen geht. Da wirkt Selfcare doch wohl ganz schön unangebracht. Tja, auch Svenja Gräfen hielt Selfcare lange für „unsolidarisch“ und „antifeministisch“. Sie berichtet vom Gefühl, nicht leiden und sich nicht beschweren zu dürfen, während es anderen schlechter geht. Anderen, denen man helfen sollte, marginalisierte Gruppen, deren Ally man sein möchte.
Eine kritische Perspektive
Svenja Gräfen ist nicht ’nur‘ Autorin, sondern auch Feministin, auch Aktivistin. Aus dieser Perspektive schreibt sie. Und sie klärt auf. Sie klärt zum Beispiel darüber auf, dass Solidarität nicht bedeutet, sich schlecht zu fühlen, weil es anderen schlechter geht. Damit meint sie aber keineswegs, unreflektiert durchs Leben zu gehen und sich der eigenen Privilegien nicht bewusst zu sein. Sondern: „Solidarisch sein kannst du am besten, wenn du nicht selbst schon am Ende deiner Kräfte bist“. ‚Selfcare-Industrie‘ nennen Kritiker*innen die Vermarktung von Dienstleistungen und Produkten mit dem Versprechen für ein besseres Leben. Svenja Gräfen ist kein Teil dieser Industrie. Sie verschweigt nicht, dass viele Praktiken, die heute unter Selfcare laufen, Ergebnisse kultureller und spiritueller Aneignung sind. Und falls du jetzt denkst, ‚argh, diese Feminist*innen, die gönnen einem auch nix!’… Die Autorin will uns Yoga nicht verbieten, nein. Es geht vielmehr um einen reflektierten Umgang. Auch das würde ich durchaus Achtsamkeit nennen.
„Hilft oder schadet es mir?“
Zu Anfang schrieb ich von Pausen. Wie oft habe ich schon zu anderen gesagt, ‚jetzt habe ich mir aber eine Pause verdient‘? Nachdem ich durchgearbeitet habe, bis ich das Gefühl hatte, dass zwischen Schädeldecke und Gehirn ein Tischtennisturnier im Gange ist. Ja, dann habe ich mir eine Pause verdient. Denn einfach so Pause machen, ohne sich vorher verausgabt zu haben? Puh, nur mit schlechtem Gewissen. Zum Glück habe ich letztens Pause gemacht – und das Buch von Svenja Gräfen gelesen. Danach hatte ich kein schlechtes Gewissen. Vielleicht habe ich ‚prokrastiniert‘. Svenja Gräfen schreibt, die entscheidende Frage sei – egal, ob wir auf der Couch liegen, Chips mampfen und Netflix schauen oder zum Abschalten 15 Kilometer joggen gehen – „hilft oder schadet es mir“? Von Zeit zu Zeit braucht man eben Abstand von der Arbeit (oder allem), um überhaupt voranzukommen. Auch das habe ich mitgenommen. Ebenso wie eine andere Sichtweise auf Stress. Denn auch den seziert Svenja Gräfen: Wie entsteht eigentlich dieses Stress-Empfinden? Und wie können wir damit umgehen? Schließlich lernen wir auch, warum Selbstfürsorge nichts anderes ist als feministische Praxis.
Stammplatz für „Radikale Selbstfürsorge“
Ich kann dir nur empfehlen, „Radikale Selbstfürsorge – Jetzt!“ einen Stammplatz auf deinem Nachttisch einzuräumen. Wenn dir mal nicht nach Lesen zumute ist, kannst du auch nur die Werke von Slinga Illustration bestaunen, die die einzelnen Kapitel untermalen. Die herzerwärmenden Illustrationen haben mich mehrmals zum Schmunzeln gebracht. Ich für meinen Teil habe mir vorgenommen: Wenn mir alles über den Kopf wächst, nehme ich dieses Buch zur Hand. Und mache Pause.
Gibt’s als Taschenbuch bei Eden Books für 15 Euro.
Passionierte Spaziergängerin und Tofu-Tante mit einem Faible für Alliterationen. Schreibt gelegentlich Gedichte und mag es, wenn Bücher ihre Gedanken wegtragen. Am liebsten in der Hand: ein Roman mit Witz und Wortgeschick. Ansonsten: feministische Literatur, Reisegeschichten und Sachbücher. Die durch das Lesen erlangten Lebensweisheiten teilt sie natürlich gerne mit euch.
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