Von all den Häusern, die in meinen Kinderbüchern beschrieben wurden, hat mich eines schon beim ersten Lesen am meisten fasziniert: In Cornelia Funkes Tintenherz wohnt Elinor, die Tante der Protagonistin Meggie, in einem riesigen alten Haus, dessen Flure und Zimmer mit Büchern gefüllt sind. Die Zahl der Bücher kann Elinor zwar nicht nennen, doch eines steht fest: Es sind viele. So viele, dass unklar ist, ob ein Mensch sie in einem einzigen Leben lesen kann.
Auch ich teile meine Wohnung gerne mit Büchern, obwohl meine Sammlung bei weitem nicht an Elinors Bibliothek heranreicht. Ein großer Teil der Werke in meinem Regal ist noch dazu ungelesen – denn Bücher herbeizuschaffen geht so viel schneller als das Lesen! Im Japanischen gibt es einen eigenen Ausdruck für diese Gewohnheit: Tsundoku beschreibt das fortlaufende Bücherkaufen mit der Intention, sie später zu lesen, ohne dies jedoch zu tun. Wörtlich übersetzt ist Tsundoku eine Kombination aus „stapeln“ und „lesen“. Das trifft meine Situation ziemlich gut: Längst ist das Bücherregal zu klein geworden, überall im Zimmer türmen sich kleine Bücherstapel auf. Ein Stapel mit Büchern, die ich „in der nächsten Zeit“ lesen möchte, ein Stapel angefangener Bücher, ein Stapel mit Büchern, die neu dazugekommen sind und die ich erst noch in meiner Bookshelf-App erfassen möchte…
Richtig gelesen, ich nutze eine App, um den Überblick über meine Büchersammlung zu behalten. Diese App verrät mir auch, dass 49% meiner 403 Bücher noch nicht gelesen sind. Zugegeben, ich habe in der App auch Nachschlagewerke, Kochbücher, Reiseführer, Lehrbücher und so genannte „Coffee Table Books“ vermerkt, die ich wohl niemals von vorne bis hinten durchlesen werde. Dennoch besitze ich genug ungelesene Bücher, um eine Weile lang getrost darauf verzichten zu können, neue dazu zu stellen. Der Lesestoff würde mir dabei nicht ausgehen. Ein stets gut gefüllter öffentlicher Bücherschrank direkt vor meiner Haustür und die täglich neuen Buchbesprechungen in meinem Instagram-Feed erschweren dieses Vorhaben allerdings erheblich.
Im Allgemeinen sind Bücher angenehme Mitbewohner. Sie leisten mir Gesellschaft, kennen die Antworten auf viele Fragen und vor allem erzählen sie die besten Geschichten. Umgeben von den Gedanken und Ideen unterschiedlicher Autor:innen fühle ich mich wohl. Wenn jedoch, wie in meinem Fall, zu viele der Bücher noch darauf warten, gelesen zu werden, kann ihre Gesellschaft frustrierend sein. Dann stehen sie fordernd im Regal oder liegen vorwurfsvoll auf ihren Stapeln und wetteifern lautstark um meine Aufmerksamkeit. Die Klassiker argumentieren, „man“ müsse sie doch gelesen haben, der Stephen-King-Wälzer erinnert an das Leseversprechen, das ich meinem Freund bereits vor zwei Jahren gegeben habe, und Dantes Die Göttliche Komödie zieht eine Augenbraue hoch und fragt, ob ich wirklich vorhabe, sie einmal zur Hand zu nehmen.
Wenn ich jedoch meinen bevorstehenden Umzug erwähne, schweigen sie plötzlich. Keines der Bücher möchte zu Gunsten leichterer Umzugskartons aussortiert und zurückgelassen werden. Damit sie für einen Moment schweigen, verrate ich den Ungelesenen nicht, dass ihre Sorge unbegründet ist. Denn, wie das Prinzip des Tsundoku erklärt, sie stehen alle auf meiner Leseliste! Zumindest werde ich mit dem Umzug den unmittelbaren Verlockungen des Bücherschranks vor der Haustür entkommen – ein Umstand, der mich mit Erleichterung und Bedauern zugleich erfüllt. Trotzdem bin ich sicher: Bei meinem nächsten Umzug werden auf unerklärliche Weise noch mehr Bücher hinzugekommen sein.
Auf der Suche nach einem guten Buch stöbert sie am liebsten in Antiquariaten und öffentlichen Bücherschränken. Neben Literatur interessiert sie sich für Nachhaltigkeit und intersektionalen Feminismus und träumt davon, eines Morgens mit einem grünen Daumen aufzuwachen.