Es ist eine reinste Erfolgsgeschichte: Im Urlaub liest er eine Biographie und ist so begeistert vom Stoff, dass er beginnt, diesen in musikalischen Stücken zu verarbeiten. Es soll ein Mixtape entstehen und den ersten Ausschnitt darf er sogar im Weißen Haus vortragen. Dort wird seine Kreativität geschätzt, aber auch belächelt. Doch er hält an seiner Idee fest und – was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß – wird fast acht Jahre später wieder vor dem Präsidenten im Weißen Haus auftreten. Denn aus einem Mixtape wird ein revolutionäres Erfolgs-Musical. Inzwischen hat Hamilton genug Auszeichnungen erhalten, um ein ganzes Bücherregal zu füllen, wird auf diversen Bühnen in aller Welt gespielt (ab Oktober sogar in deutscher Übersetzung in Hamburg) und hat seinen Erschaffer Lin-Manuel Miranda zu internationalem Ruhm katapultiert. Und dabei hat alles mit einer kleinen Urlaubslektüre begonnen…
Doch es ist längst nicht das einzige Beispiel für die Synergie zwischen Literatur und Musical. Viele Musicals haben ihren Ursprung in literarischen Werken, häufig auch inspiriert durch eine erfolgreiche Filmadaption aus Hollywood. Dies ist zum Beispiel bei Carrie (entstanden nach der erfolgreichen Filmadaption von Stephen Kings gleichnamigen Horror-Roman von 1974), Die Farbe Lila (nach dem gleichnamigen Roman von 1982 und der filmischen Adaption von 1985) oder Matilda (basierend auf Roald Dahls Kinderbuch und dessen Verfilmung von 1996). Aber nicht allen Musical-Adaptionen von literarischen Werken geht eine erfolgreiche Hollywood-Verfilmung voraus.
Häufig basieren diese auf literarischen Klassikern, die zum Kanon der Weltliteratur gehören und auf den ersten Blick nicht wirken, als seien sie für eine moderne Musical-Produktion geeignet. Doch ein Blick auf die Musicalgeschichte genügt, um zu erkennen, dass ein Klassiker mit der modernen Kunstform, die aus Oper und Theater heraus entstanden ist, harmonieren kann. Das beste Beispiel ist Les Miserables, dessen Handlung rund um Revolution und Rebellion den heutigen Zeitgeist immer noch trifft. Als Victor Hugo 1862 seinen Text veröffentlichte, rechnete er vermutlich nicht damit, dass seine Charaktere mehr als 100 Jahre später auf den Bühnen dieser Welt ihre Seele aus dem Leib singen und tanzen werden. Doch so wurde Hugos Werk immortalisiert und wem Jean Valjean, Javert und Éponine vielleicht nichts sagen, so haben zumindest die meisten bestimmt die Melodie von „I Dreamed a Dream“ sofort im Ohr.
Auch eine weitere Musical-Sensation stammt ursprünglich aus der Feder eines französischen Autors: Gaston Leroux’s Phantom der Oper wurde 1909 und 1910 in mehreren Teilen in der Zeitung Le Gaulois veröffentlicht und wurde zu einem Klassiker der französischen Schauerliteratur. Auch wenn es nicht die erste Bühnenadaption dieses Materials war, so gehört Andrew Lloyd Webbers Phantom der Oper von 1986 zu den erfolgreichsten Musicals aller Zeiten und ist vermutlich inzwischen bekannter als Leroux’s Ausgangstext. Doch nicht nur französische Literatur bietet sich für die Musical-Bühne an.
Denn auch ein russischer Klassiker wurde zu einem, wenn auch weniger bekannten, Musical überarbeitet. Natasha, Pierre and the Great Comet of 1812 (oder auch nur The Great Comet) basiert auf ungefähr 70 Seiten von Lew Tolstois umfangreichem Werk Krieg und Frieden. Nachdem Sänger Josh Groban die Show verließ und es Unstimmigkeiten mit seinen Nachfolgern gab, wurde die Show jedoch leider schon nach einem circa einjährigen Broadway-Run wieder geschlossen und das Potenzial konnte nie komplett ausgeschöpft werden. Dennoch bleibt The Great Comet ein besonderes Werk in der Musical-Geschichte. Denn wer sich an Tolstois komplexes Werk wagt und diese Komplexität dann in der Musik durch einen einzigartigen Mix aus Folklore, Oper, Rap und elektronischen Beats widerspiegelt, hat sich einen dauerhaften Platz in den Herzen von Musical-Fans absolut verdient.
Und selbst deutsche Dichter und Denker sind in der Musical-Landschaft zu finden. Vielleicht etwas weniger überraschend, aber natürlich haben auch die Grimm-Brüder einen Stern im Musical-Himmel. In Into The Woods werden einige Grimm-Erzählungen („Rotkäppchen“, „Aschenputtel“ und „Rapunzel“) in die Handlung integriert. Inzwischen gibt es auch eine Filmversion des Musicals und das von niemand geringerem als dem Gigant der Märchen-Adaptionen, Disney. Doch die beliebteste Musical-Adaption eines deutschen Werkes ist Spring Awakening.
Inzwischen vielleicht etwas in Vergessenheit geraten und nicht mehr so häufig als Lektüre in den Lehrplänen zu finden, hat Frank Wedekinds 1906 uraufgeführtes Drama Frühlingserwachen dennoch einen bleibenden Eindruck bei Steven Sater und Duncan Sheik hinterlassen. Basierend auf Wedekinds Text entwickelten die beiden in den 1990ern Text und Musik und überarbeiten diese in mehreren Workshops, bis das fertige Musical erst Off-Broadway und dann 2006 am Broadway zum ersten Mal aufgeführt wurde.
Sater und Sheik greifen die Themen des Theaterstücks auf und verstärken die Gesellschaftskritik, die bei Wedekind bereits deutlich wird. In ihrer Prüderie und Strenge entspricht die dargestellte Gesellschaft eines Deutschlands der 1890er im Musical Wedekinds Darstellungen und erschwert das Leben der jungen Protagonist*innen. Erwachsene und Teenager werden gegenübergestellt und ihre Beziehung ist zumeist geprägt von Schweigen. Schweigen über Sexualität, Schweigen über die eigenen Gefühle, Schweigen über das, was wirklich vor sich geht. Die musikalischen Einschübe wiederum wirken dann wie Traumsequenzen, in denen die Teenager aus ihren gesellschaftlichen Normen ausbrechen und äußern können, was sie wirklich bewegt. In den rockigen Songs thematisieren sie damalige Tabu-Themen wie Masturbation, Missbrauch und Homosexualität. Wedekinds historisches Drama, das durch seine Unverblümtheit und Offenheit schon selbst progressiv für die Belle Epoque war, für viel Aufruhr gesorgt hat und von der Zensur stark betroffen war, wird mit modernen Songs und Einstellungen weiter in die heutige Zeit gerückt.
Letztes Jahr feierte das Musical 15-Jähriges Broadway-Jubiläum und hat dennoch überhaupt nicht an Relevanz verloren. Denn genau wie 2006 resonieren viele Themen auch heute immer noch bei Teenagern und (jungen) Erwachsenen. Dies greift etwas vor, aber beispielsweise wird in Spring Awakening auch Abtreibung thematisiert und passt angesichts des kürzlich aufgehobenen Werbeverbotes in Deutschlands und der Aufhebung der „Roe v. Wade“-Gesetzgebung in den USA noch in das Jahr 2022.
Neben den vielen Klassikern bekommen auch neuere Bücher aus den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Musical-Adaption. Beispielsweise hat es Rick Riordans erfolgreiche Jugendbuchreihe Percy Jackson in Musicalform an den Broadway geschafft. Und obwohl es den Weg zu einer großen Bühne nie gefunden hat, so ist auch das virale A Very Potter Musical dem ein oder anderen Musical- und/oder Harry Potter-Fan ein Begriff. Welches eurer Lieblingsbücher hat es schon an den Broadway oder ans West End geschafft und welches würdet ihr gerne einmal auf der großen Musicalbühne sehen?
Die gebürtige Rheinländerin liebt Geschichten aller Art, seien es Bücher, Filme oder Serien. Besonders gerne begibt sie sich aber auf Reisen in fantastische oder dystopische Welten. Außerdem liebt sie die Musik und vor allem das Singen. Neben ihrer Liebe zur Literatur ist sie begeisterter Fan von Musicals und dem Eurovision Song Contest.