Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein Begriff im gesellschaftlichen Diskurs festgesetzt, der wie aus dem Nichts immer wieder Hochkonjunktur feiert. In einer komplexer werdenden, globalisierten Welt sehnen sich viele Menschen nach einem identitätsstiftenden Bezugspunkt, der von den vor sich gehenden Veränderungen weitestgehend unberührt bleibt. Eine Konstante, die als Ankerpunkt im Leben dient oder anders gesagt, eine Heimat ist. Doch was umfasst den viel diskutierten Begriff Heimat? Vorrangig kann Heimat als eine Gefühlsmixtur, bestehend aus den Ingredienzen Geborgenheit, Sicherheit und Vertrautheit verstanden werden, die sich physisch in Form von Menschen, Tieren, Gebäuden, Landschaften und vielem anderen manifestiert. Gleichzeitig ist Heimat an Gerüche und Geschmäcker gekoppelt, an Erfahrungen und Erinnerungen, die losgelöst sind von einem fixierten Raum. Im politischen Diskurs verhandelt die Begriffsbestimmung Heimat allerdings oftmals, für wen Deutschland eine Heimat sein kann bzw. darf und für wen nicht. Dieser Diskurs schlug auch jüngst Wellen im Literaturbetrieb, wie der Essayband Eure Heimat ist unser Alptraum (Hrsgg. von Fatma Aydemir & Hengameh Yaghoobifarah) oder der mit dem diesjährigen Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman Herkunft von Saša Stanišić zeigen.
Im Jahr 2013 veröffentlichte Alida Bremer mit Olivas Garten einen Roman, der vom Verlust von Heimat und der Schwierigkeit handelt, sich an einem anderen Ort heimisch zu fühlen. Seit einigen Monaten begleitet unsere Redaktion bereits das Projekt Eine Uni – ein Buch der Universität Duisburg-Essen, in dessen Mittelpunkt Olivas Garten steht. Vor kurzem erschien auf Digitur die Rezension zum Werk, die ihr hier nachlesen könnt. Vom 11.11. bis zum 14.11.2019 habt ihr zudem die Gelegenheit, Alida Bremer als Poet in Residence an der Universität Duisburg-Essen zu erleben und Einblicke in das kreative Schaffen der Autorin zu erhalten.
Heimat bezeichnet eine emotionale Verbundenheit und damit auch etwas nicht Fassbares, etwas Abstraktes. In Olivas Garten wird die Vielschichtigkeit des Konstrukts Heimat an konkreten Situationen ersichtlich, die sich auch auf den deutschen Heimat-Diskurs übertragen lassen. Im Roman begibt sich die seit geraumer Zeit in Deutschland lebende Ich-Erzählerin Alida nach Kroatien in ihre Heimatstadt Vodice und dessen Umgebung. Sie ist dort aufgewachsen und sozialisiert worden, wie ihre gesamte kroatische Familie mütterlicherseits. An dieser Region hängen prägende Kindheits- und Jugenderinnerungen der Figuren. Für Mirta, eine der Tanten der Erzählerin, ist das verfallene Elternhaus nicht nur eine Erinnerungsstätte, sondern auch ein fester Ankerpunkt, zu dem sie jederzeit zurückkehren kann. Das Haus erhält einen sakralen Status, der unangetastet bleiben soll. Es trägt die Familiengeschichte in sich und darf deshalb um keinen Preis an „Fremde“ verkauft werden. Mirta realisiert durchaus, dass die Menschen, die dieses Haus mit Leben und Erinnerungen füllten, nach und nach verstorben sind und das brüchige Haus nur einen rückwärtigen und keinen zukünftigen Heimatbezug bietet. Das Rosenbeet, die Ottomane von Alidas Großmutter Oliva oder die verschiedenen Stockwerke des Hauses sind nur noch geknüpft an Erinnerungen, die eine Verbundenheit zu den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses ausdrücken.
Nach einiger Zeit verspürt Alida eine starke Sehnsucht, in ihre Herkunftsheimat Dalmatien zurückzukehren. Sie setzt sich dafür ein, die umliegenden Weinberge und Olivenhaine wieder in den Besitz der Familie zu bringen. Dieser Einsatz ist an Auseinandersetzungen mit Investorinnen und Investoren geknüpft, die an den Weinbergen und Grundstücken ihrer Familie interessiert sind. Heimat ist demnach auch ein Katalysator für zivilgesellschaftliches Engagement, das sich gegen von Außen aufgezwungene Veränderungen wehrt. Das Versprechen einer Entkomplexisierung durch einen festen Bezugspunkt wie das Zuhause der Kindheit gerät ins Wanken, da Prozesse der Gentrifizierung und Globalisierung im Heimatdorf bzw. der Heimatstadt Einzug halten und für Veränderungen sorgen. Veränderungen sind im negativen Sinne verknüpft mit Umstellungen, Ungewissheiten und Ängsten. Es findet hier eine als „Angriff“ empfundene Veränderung der Heimat statt, durch die die Bewohner*innen verdrängt werden, um Luxusressorts für Touristinnen und Touristen zu schaffen. Das Phänomen Gentrifizierung trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die Heimat für die Bewohner*innen langsam auflöst und ein Gefühl der Entfremdung bei ihnen eintritt.
Heimat ist gleichfalls ein Sozialraum, der kollektive Identitäten schafft. In diesem Raum bestehen Gemeinschaftsgeflechte zwischen Familien, Nachbarinnen und Nachbarn und Freundinnen und Freunden. Dass Heimat als identitätsstiftendes Konstrukt immer fragil und anachronistisch bleibt, ist dem Umstand geschuldet, dass das Leben zwangsläufig Veränderungen mit sich bringt. Im Falle einer Dorfgemeinschaft bedeutet dies bspw. den Tod von Bewohnerinnen und Bewohnern oder deren Umzug in eine andere Gegend. Alida reflektiert diesen Umstand, der sie als Migrantin zwar in besonderer Weise betrifft, aber doch für alle Weggezogenen gleich zu sein scheint:
Diese Angst aller Migranten überall auf der Welt wird stärker, je länger sich der Migrant in der trügerischen Gewissheit wiegt, eines Tages zurückzukehren, und je mehr er versteht, dass dieser Tag nie kommen wird. Und nie wird er das vorfinden und festhalten können, was er zurückgelassen hat, als er davonzog. Aber gilt das nicht für alle Menschen, auch für die, die nur ein paar Straßen weiter gezogen sind oder – wie meine Tanten und meine Mutter – ein paar Ortschaften weiter?
Die Distanz zu ihrer Herkunftsheimat führt zur inneren Zerrissenheit der Protagonistin, die sich sowohl zu ihrer Herkunfts- als auch zu ihrer Wahlheimat hingezogen fühlt. Gleichzeitig bleibt die Beziehung zur neu ausgewählten Heimat bei Hinzugezogenen oftmals distanziert, da ihnen das Gefühl vermittelt wird, weder willkommen zu sein noch als Teil der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Heimat kann eine äußerst destruktive Konstruktion sein, die auf ein geschlossenes „Wir“ versus den „Fremden“ fußt. Heimat funktioniert dann als Teilungsfaktor, der kaum zur Inklusion, sondern vielmehr zur Exklusion von Menschen führt. Alida erfährt derlei Ausgrenzungserfahrungen in Deutschland bspw. in einem orthopädischen Schuhgeschäft, in dem die Verkäuferin sie trotz ihrer guten Deutschkenntnisse nicht auf Deutsch beraten möchte und auf die fremdsprachigen Broschüren verweist. Alida fehlt die Vertrautheit der Muttersprache, die zum Verständnis für andere Menschen beiträgt und ein Gefühl der Geborgenheit hervorrufen kann. Zudem fehlt ihr in Deutschland die Herzlichkeit der Menschen, die ihr in Kroatien entgegengebracht wird. Die Kluft zwischen ihrer Herkunfts- und Wahlheimat wächst im Verlaufe des Romans immer weiter. Alida wird bewusst, wie sehr sie die vertrauten Interaktionen und Gesprächsabläufe vermisst, die ihre alte Heimat ausmachen:
Eigentlich wollte ich abfahren. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich ganz schnell meinen Mann wiedersehen müsste. Dalmatien hielt mich fest mit all seinen Düften und Farben, eine ungestüme Energie strömte aus der Landschaft, aus den Stimmen und Gesten der Menschen, die mir wieder vertraut waren – ich hatte geglaubt, dass ich sie aus mir vertrieben und durch die nüchterne westfälische Bodenständigkeit ersetzt hätte.
Interessanterweise wiegt Alida ihre Heimatgefühle gegen die Heimatgefühle ihres Mannes auf. So berichtet ihr Ehemann von seinen Kindheitserinnerungen an der Ostsee und seiner Verbundenheit zum nordischen Meer, woraufhin Alida die Ost- und Nordsee mit der Adria abgleicht und prompt Mitleid mit ihrem Mann empfindet. Hier zeigt sich ein weiteres Phänomen, das sich rund um das Konstrukt Heimat entspinnt – die Abwertung anderer Heimaterfahrungen bei gleichzeitiger Aufwertung der eigenen. Rechtspopulistische Kräfte nutzen diese Überhöhung der eigenen Heimat auf der Ebene des jeweiligen Nationalstaats auf perfide Art als Argument gegen Migration, indem sie behaupten, dass beispielsweise die deutsche Bevölkerung und ihre Bräuche und Traditionen denen von anderen Bevölkerungen überlegen seien und sie deshalb vor fremden Einflüssen geschützt werden müssen, um diese Überlegenheit beizubehalten. Da Heimat eine von Person zu Person grundverschiedene emotionale Bindung bezeichnet, erfordert die Konstruktion einer kollektiven Heimat auf überregionaler Ebene eine noch stärkere Imaginationsleistung. Eine Heimat kann einer anderen Heimat aufgrund seiner subjektiv abhängigen Konstruktion jedoch nie überlegen sein und erschließt sich als Nationalstaatskonzept nicht.
Bereits Anfang des 20. Jahrhundert kreierten Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten ein Bedrohungsszenario, nach dem die Heimat von Außen bedroht werden würde. Diese Stimmung griff die faschistische Bewegung des Nationalsozialismus auf und pervertierte den Heimatbegriff, indem sie ihn an das Vaterland und an ein imaginiertes homogenes Volk knüpften. Bremer zeigt in Olivas Garten anhand der Familienhistorie der Protagonistin die Folgen der faschistischen Bewegungen in Italien, Deutschland und Jugoslawien für die kroatische Bevölkerung auf. Diese faschistischen Bewegungen profitierten auch von den damals geführten Heimat-Diskursen, die zu mehr Zustimmung in den jeweiligen Bevölkerungen für Abschottung vor dem „Fremden“ einerseits und Angriffe auf das „Fremde“ andererseits führten. Die blutigen Eroberungsfeldzüge gingen einher mit der Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung aus deren Heimatregionen. Auch Alidas Ahnen müssen gezwungenermaßen fliehen und leben kurzzeitig in Zwangsexilen in Italien oder auf der ägyptischen Halbinsel Sinai. Die Heimkehr von dieser traumatischen Erfahrung verändert die Figur Oliva grundlegend, was sich darin äußert, dass sie kaum noch spricht und den Großteil des Tages zurückgezogen auf ihrer Ottomane verbringt. Die Illusion einer idyllischen und sicheren Heimat ist für sie nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Die Verbundenheit zur räumlichen Umgebung, die die Erzählerin und die anderen Figuren als Heimat bezeichnen, entsteht stark über dessen Naturerscheinungen. Darunter fallen unter anderem das Meer (Adria), Tiere (Möwen, Oktopusse), Pflanzen/Landschaften (Olivenhaine) oder ein „wahrer Sommer“ im Gegensatz zum „Surrogat“ eines Sommers, wie es ihn in Deutschland gibt. Das Motiv Natur taucht seit jeher auch im Heimat-Diskurs Deutschlands auf und wurde literarisch und malerisch in der Romantik des späten 19. Jahrhunderts und in Filmen der 1950er-Jahre aufgegriffen. Künstler*innen schufen idyllische Bilder von Landschaften, Bergen, Meeren, Wäldern, Vegetationen und Tieren und trugen damit maßgeblich zur Glorifizierung bestimmter deutscher Regionen bei.
Auch die zeitliche Dimension spielt eine wesentliche Rolle bei der Konstruktion von Heimat. Die Verwurzelung von Alidas Familie in Vodice und dessen Umgebung reicht weit über hundert Jahre zurück, weshalb die Verbundenheit zur räumlichen Umgebung bei den Figuren des Romans besonders ausgeprägt ist. Im Roman entspinnt sich ein Narrativ, das die Familienhistorie von 1918 bis 2011 behandelt. Dieses Ahnen-Narrativ soll sowohl für die derzeitigen als auch für die zukünftigen Familienmitglieder bestehen bleiben, weshalb Alida dafür kämpft, den Aufkauf der Olivenhaine, Weinberge und Grundstücke der Familie zu verhindern. Die Vertrautheit mit den Traditionen und Gepflogenheiten der Region reflektiert Alidas Urgroßmutter Paulina, als sie an ihren Umzug an einen anderen Ort denkt:
Die Heimat war ein Ort, an dem die Beerdigungen große Feste waren. Einen Toten verabschiedete immer das ganze Dorf. Wie wird das wohl in der Fremde sein? Sie hatte die Stütze im Himmel verloren, jetzt spürte sie, dass ihr auch die Stütze auf Erden abhanden kam.
Heimat im Verständnis einer Region ist demnach mit kulturellen Komponenten verknüpft, die Bräuche, Traditionen, Gepflogenheiten, Verhaltensweisen in sozialen Interaktionen, kulinarische Besonderheiten und vieles mehr umfassen. In Olivas Garten tritt die regionale Küche in Gestalt von Alidas Vater Ivan und Alidas Großmutter Oliva auf. Um seiner Tochter Alida ein Heimatgefühl in der „Fremde“ zu verschaffen, bringt er beim Besuch seiner Tochter in Westfalen einen vom Vortag gefangenen Oktopus aus Dalmatien und einige für die Region um Vodice typische Köstlichkeiten mit. Das Phänomen, dass über Gerüche und Geschmäcker Erinnerungen an die eigene Biografie geweckt werden, zeigt sich gerade in den Passagen, in denen Olivas Perspektive eingenommen wird. Während Alidas Großmutter kocht, isst oder trinkt, tauchen verdrängte Erinnerungen in ihr auf, die sie gezwungenermaßen über ihre traumatischen Erfahrungen reflektieren lassen. Sowohl das Essen als auch bestimmte Getränke spenden ihr jedoch gleichzeitig Trost und sind Ausdruck eines mediterranen Lebensgefühls, das Bremer im Roman geschickt einzufangen vermag:
Oliva hat Melisseblätter in Weißwein ziehen lassen und trinkt nun diesen Heiltrunk, glücklich und in der Gewissheit, dass ihre Wallungen, ihre Migräne, ihre geschwollenen Beine, ihre Depression, ihre Leiden, die sie nicht mit dem Namen Frauenleiden belegen möchte, ihre menschlichen Leiden davon verschwinden werden, zwar nicht für immer, aber sicher für heute Abend. Sie lässt die Säfte der beiden heiligen Pflanzen, des Weins und der Melisse langsam durch ihren Hals fließen und heißt sie willkommen, als sie ihr verborgenes Ich erreichen.
Der Diskurs über den „Kampfbegriff“ Heimat wird, auch durch das Erstarken rechtspopulistischer Stimmen, weiterhin intensiv geführt werden. Olivas Garten bietet eine literarische Perspektive auf die vielfältigen Bedeutungsebenen von Heimat und es ist davon auszugehen, dass der Themenkomplex Heimat im Literaturbetrieb auch über die nächsten Jahre hinweg fester Bestandteil literarischer Werke sein wird. Für eine umfassende Übersicht über das Konstrukt Heimat aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive empfiehlt sich der 2019 von Martina Hülz, Olaf Kühne und Florian Weber herausgegebene Band Heimat.
Wer sich weiterhin mit dem Thema Heimat beschäftigen, aber mal nicht zum Buch greifen möchte, kann in diesem Monat gleich zwei Veranstaltungen in Essen mit dem Schwerpunktthema Heimat besuchen. Am 11.11.2019 ergänzt Goran Lovrić mit seinem Vortrag über Heimat und Wahlheimat bei Alida Bremer die Poet-in-Residence-Veranstaltung von Alida Bremer im Bibliothekssaal der Universität Duisburg-Essen. Fast eine Woche später, am 17.11.2019, werden Thomas Ebermann und Thorsten Mense im Rahmen des Literatürk Festivals durch den Themenabend Heimat – Eine Besichtigung des Grauens im Café Central des Aalto Theaters führen und auf der Bühne die destruktiven Aspekte des Konstrukts Heimat veranschaulichen.
Literatur- und Musikliebhaber aller Genres – Hauptsache, es taugt. Verbringe ich meine Zeit nicht mit meinem Freundeskreis, meiner Familie oder vertieft in Büchern, begebe ich mich liebend gerne in die Untiefen Youtubes auf Sample-Suche.
Ein toller Beitrag, den ich gerne gelesen habe.
Vielen Dank, das freut mich sehr!