The Girls aren’t Alright

Einfach mal so richtig ausschlafen. Mittags aufstehen, zur Bäckerei schlendern, gemütlich frühstücken und dann mal sehen, was der Tag so bringt – nach einer anstrengenden Klausuren- oder Hausarbeitenphase muss das sein. Wie wäre es aber, ein ganzes Jahr durchzuschlafen und die wache Zeit allein damit zu verbringen, sich möglichst effizient auf den nächsten Schlaf vorzubereiten?

Schlaf auf Rezept

Genau dies tut die Protagonistin des Romans My Year of Rest and Relaxation (dt. Mein Jahr der Ruhe und Entspannung) von Ottessa Moshfegh. Die namenlose Ich-Erzählerin ist Mitte zwanzig, hat Kunstgeschichte studiert, kann sich mit dem Erbe ihrer Eltern eine Eigentumswohnung in New York leisten und braucht sich generell um ihre Finanzen keine Sorgen zu machen. Sie hat direkt nach dem Studium einen Job in einer Kunstgalerie ergattert, ist schlank und schön. Trotzdem hat sie das Bedürfnis, dieses Leben, um das sie viele beneiden würden, zu verschlafen. Mit Hilfe ihrer moralisch fragwürdigen Psychiaterin Dr. Tuttle, die ihr mit Vergnügen eine absurde Menge an Schlaf- und Beruhigungsmitteln verschreibt, lässt sich die Protagonistin in einen konstanten Dämmerzustand versetzen.

Ziel der Protagonistin des Romans ist es, ein ganzes Jahr zu durchzuschlafen. (Quelle: Penguin Random House)

Sad Girls Everywhere

Nachdem mir My Year of Rest and Relaxation immer wieder in den sozialen Medien begegnet war, habe ich den Roman diesen Monat endlich gelesen. Das Buch hat alle Zutaten, die es braucht, um viral zu gehen: einen extremen, teils verstörenden Plot, Charaktere ohne Moralkompass und ein hübsches Cover. Ich glaube allerdings, dass noch ein weiterer Aspekt für den Erfolg des Romans verantwortlich ist: er passt extrem gut zum sad girl-Trend. Auch dieser verfolgt mich seit einigen Monaten auf sämtlichen Internetplattformen. Kurz gesagt scheint es so, als seien sowohl weibliche Film- und Buchcharaktere als auch Künstler:innen heutzutage hauptsächlich eines: traurig.

Wir haben sicherlich die Szene aus Billie Eilish‘ Musikvideo zu „When the Party’s over“, in dem ihr schwere, schwarze Tränen die Wangen herunterlaufen, noch im Gedächtnis. Auch auf ihrem aktuellen Albumcover, mit dem scheinbar paradoxen Titel „Happier than ever“ weint Billie. Diesmal dezenter und sehr ästhetisch. Auch in der Literatur lassen sich zahlreiche traurige Frauen finden – man denke nur an die Charaktere in Sally Rooneys Romanen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen versagen und ihre Gefühle nur nach mindestens drei Gläsern Wein artikulieren können.

Sad Girls: Von Tumblr in den Mainstream

Seine Anfänge nahm der sad-girl Trend auf Tumblr. Ende der 2000er, Anfang der 2010er Jahre posteten dort vor allem junge, weiße Frauen Beiträge, in denen sie ihrer Traurigkeit Ausdruck verliehen. Vom Weinen verschmierte Mascara, schwarz-weiß Bilder und traurige Film- oder Songzitate gehörten zur Ästhetik des sad girls. In der Anonymität des Internets fanden die traurigen Mädchen das, was ihnen in der realen Welt oft fehlte: Gemeinschaft und Verständnis. Das ungefilterte Teilen negativer Emotionen hatte allerdings auch eine Kehrseite. Viele Accounts romantisierten psychische Erkrankungen, vor allem Depressionen, und boten keinerlei Alternativen zum Traurigsein, zum Beispiel in Form von Therapie, sondern bestärkten die User:innen in ihrer Misere. Hier findet ihr ein Video, in dem der sad girl-Trend vor allem im Hinblick auf Schönheitsideale und White Privilege kritisch betrachtet wird.

Auch mit verschmierter Mascara sehen sad girls noch schön aus (oder gerade deswegen?) (Quelle: Pexels)

Lana Del Rey wird oft für die Popularisierung des sad girls verantwortlich gemacht. In ihren Musikvideos gibt sie sich meist melancholisch und Songtitel wie „Born to Die“, „Summertime Sadness“ oder auch „Sad Girl“ lassen keinen Zweifel daran, welches Gefühl ihr Schaffen bestimmt. Mit ihrem kommerziellen Erfolg Anfang der 2010er breitete sich der sad girl-Trend von Tumblr bis in den Mainstream aus. Auch an Lana Del Rey und ihrer inszenierten Traurigkeit lässt sich vieles kritisieren – vor allem das Romantisieren von Depressionen und die Normalisierung toxischer bzw. missbräuchlicher Beziehungen.

My Year of Rest and Relaxation und das Sad Girl

Mittlerweile ist das sad girl zur Protagonistin zahlreicher Filme, Serien und Romane geworden (hier findet ihr eine Übersicht über aktuelle sad girl-Literatur), so auch von My Year of Rest and Relaxation. Wirklich traurig ist die Ich-Erzählerin auf knapp 300 jedoch Seiten nie. Als sie in einem wachen Moment in sich geht, sucht sie nach Traurigkeit, kann diese aber nicht finden:

„I felt nothing. I could think of feelings, emotions, but I couldn’t bring them up in me. I couldn’t even locate where my emotions came from. My brain? It made no sense. Irritation was what I knew best – a heaviness on my chest, a vibration in my neck like my head was revving up before it would rocket off my body. But that seemed directly tied to my nervous system – a physiological response. Was sadness the same kind of thing? Was joy? Was longing? Was love?“

Anstatt sich ihrer Traurigkeit hinzugeben, tut die Protagonistin alles, um diese gar nicht erst aufkommen zu lassen. Gründe, traurig zu sein, hat sie nämlich genug: Ihre Eltern sind kurz nacheinander verstorben, seit Jahren befindet sie sich in einer toxischen On-Off-Beziehung mit einem 15 Jahre älteren Bänker und ihr einziger sozialer Kontakt ist ihre „beste Freundin“ Reva, die sie heimlich verabscheut. Das Traurigste an dem Roman ist daher nicht seine Protagonistin, sondern dass diese sich nur durch extreme Maßnahmen zu helfen weiß. Auch der Erfolg des Romans ist daher gewissermaßen traurig – offensichtlich können sich viele Leser:innen mit der Protagonistin zumindest teilweise identifizieren. Dies ist nicht verwunderlich, denn in einer Welt, die von uns ständig hundertprozentige Leistung, Selbstoptimierung und Erreichbarkeit fordert, wollen wir doch alle einfach nur mal so richtig ausschlafen.

Schlafen gegen den Kapitalismus?

My Year of Rest and Relaxation ist oft als eine Antwort auf Leistungsgesellschaft und Kapitalismus interpretiert worden – schließlich ist im Kapitalismus nichts schlimmer, als unproduktiv zu sein, und was ist unproduktiver, als das Leben absichtlich zu verschlafen? Doch wie gut wirken Traurigkeit und Untätigkeit gegen den Kapitalismus? Leider nur so semi-gut. Traurig ist man, wie auch die Ich-Erzählerin aus My Year of Rest and Relaxation, meist allein. Anstatt sich Hilfe zu suchen oder etwas an den Umständen zu ändern, die sie traurig machen, ziehen sad girls es vor, in ihrer Traurigkeit zu schwelgen. Lethargie ist ein Hauptsymptom von Depressionen, und daher sollte es nicht verwunderlich sein, dass die sad girls lieber Lana Del Rey hören als sich politisch zu engagieren. Doch wie viele der sad girls leiden tatsächlich unter Depressionen? Wie viele von ihnen folgen einfach nur einem Trend? Ich möchte niemandem seine:ihre Emotionen absprechen. Doch wie viel mehr könnten wir erreichen, wenn wir nicht traurig, sondern wütend wären? Gründe, um wütend zu sein, gibt es, genau wie Gründe, um traurig zu sein, schließlich genug. Während Traurigkeit nach innen gerichtet ist, richtet sich Wut meist nach außen. Sie lähmt nicht, sondern macht rasend. Ich möchte eine Welt sehen, die von mad girls statt von sad girls bevölkert wird.

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