Amy Morris feiert ihren 26. Geburtstag. Sie trinkt viel mit Freunden. Plötzlich verschwindet sie aus dem Club. Wenige Tage später wird sie tot in einem Park gefunden.
Das könnte der Beginn eines Krimis oder einer Serie sein, es ist jedoch der Beginn einer Story, die über das Smartphone erzählt wird. Diese arbeitet mit Medien und Tools, denen wir eher selten bei literarischen Erzählungen begegnen. Last seen online (so der Titel, der eigentlich schon die Story auf den Punkt bringt) ist eine „real-time story“, die über einen Messenger erzählt wird. Genau genommen ist es eine App, die im November 2016 auf den Markt kam, deren Display an einen Messenger erinnert. Die LeserInnen bzw. UserInnen erhalten nach Download der App sieben Tage lang Nachrichten von Amys Freunden, Bekannten und ihrer Familie. Ihnen wird damit simuliert Amys Handy zu besitzen. Doch das eigentlich Interessante an dieser Story sind die Mittel, mit denen Literatur (von einem breiten Begriff der Literatur ausgehend) vermittelt wird. Die Produzenten von last seen online, Adam Lowe und Shib Hussain, haben nicht nur Fotos, Videos und Sprachnachrichten in die Story integriert, sondern auch Hyperlinks, die zu eigens für die Geschichte eingerichtete Webseiten führen. So kann man sich zwischen Textnachrichten, Instagram-Profil, Zeitungs-, Radio- und Fernsehnachrichten bewegen. Das ist von Lowe und Hussain sehr gut gemacht und zeigt exemplarisch auf, wie heute ein textuelles Gebilde aussehen kann.
Mit den Neuen Medien sind in den vergangenen Jahren unterschiedlichste Formen von Literatur aufgekommen, die unter dem weiten Begriff Netzliteratur verhandelt werden. Was Netzliteratur unterscheidet von der traditionellen Literatur, sind Intermedialität und vor allem Interaktivität. Mit der immer mehr auf Interaktivität ausgelegten Literatur hat sich der Rezeptionsprozess der LeserInnen stark verändert. Während das Buch ein langsames und immer nur erinnerndes Medium ist, kann inzwischen mit Hilfe des Smartphones Literatur in quasi Echtzeit produziert und veröffentlicht werden. Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung über neue Formen und die zahlreichen kreativen Spielereien mit der digitalen Technik und Literatur steht noch ganz am Anfang. Formen wie Messenger-Stories kommen bis dato kaum darin vor. Im wesentlichen Gegensatz zum abgeschlossenen Werk, vermitteln „digital storys“ das Gefühl an der Produktion teilzuhaben, denn die Rezipienten wirken an der Performance des digitalen Werkes mit, indem sie durch interaktive Handlungen wie Navigationshandlungen die Geschichte quasi mitbestimmen. Im speziellen Falle von last seen online bedeutet das, entscheiden zu können, welchem Chat man folgen oder welchen Link man öffnen möchte. In der Netzliteratur werden Störungen bzw. Unterbrechungen gezielt eingesetzt, um eine erweiterte ästhetische Erfahrung zwischen Text und RezipientIn zu ermöglichen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die interaktiven Eingriffsmöglichkeiten die UserInnen zwingen, auf den Text bzw. die Zeichen zu reagieren. Der digitale Text erwartet eine gewisse Eigeninitiative, die der analoge Text in dieser Form nicht fordern kann, denn bei diesem geht es in erster Linie um Verstehen und Interpretieren, nicht um Handeln, so der Siegener Literaturwissenschaftler Jörgen Schäfer. Die ästhetische Erfahrung entsteht nicht mehr in der Lektüre eines starren Textes, sondern in einem Zusammenspiel von Text auf der einen Seite und Programmen, die unmittelbar auf Handlungen reagieren auf der anderen Seite.
Bei Messenger-Storys kommt noch eine weitere Komponente dazu: eine Unmittelbarkeit. Mit Hilfe von Benachrichtigungen, die auf dem Handy wie Push-Up-Nachrichten erscheinen, kommt die Story quasi unmittelbar zu einem, ohne wirklichen Eigenaufwand, ohne langes Suchen oder Aufrufen einer Seite im World Wide Web. Erzählt wird die Story dabei im wortwörtlichen Sinne in Echtzeit. Man kann nicht vorblättern, sondern nur warten, bis eine neue Nachricht eintrifft, wie in der Realität. Das weckt Spannung und Neugier – doch stellt sich die Frage, was man von Literatur eigentlich erwartet. Im Internet geht der Trend ganz klar hin zur kleinen Form. Kurze Geschichten sind angesagt, wie das Beispiel „Instapoetry“ zeigt, worüber wir erst vor wenigen Wochen berichtet haben. Messenger-Story-Telling könnte daher erfolgversprechend sein, nicht nur weil Messenger so gut wie jeder nutzt. Auch indem es ein junges Publikum anspricht, das wohl eher keine Thomas-Mann-Werke lesen wird, aber sich gerne mit Apps unterhalten lässt. Apps wie last seen online bringen keine Meisterwerke hervor und sind inhaltlich eher plakativ aufgebaut, dennoch sind ihre Gerüste literaturwissenschaftlich sehr spannend, da sie an der Schnittstelle von Literatur, Film und digitalen Medien operieren. In den vergangenen Jahren wurden bereits einige „WhatsApp-Storys“ umgesetzt wie beispielsweise vom NDR die Geschichte eines Geflüchteten auf seiner Reise, oder ein in Afrika spielendes Familiendrama, das von der Drehbuchautorin Bongi Ndaba produziert und mit renommierten Schauspieler aus Südafrika vertont und verbildlicht wurde. Die Resonanz solcher Storys war bisher durchweg positiv und man kann gespannt sein, was noch in dieser Form alles kommen wird. Es wird auch nur eine Frage der Zeit sein, bis der erste Messenger-Roman in den Regalen der Buchhandlungen liegen wird. Es ist überhaupt verwunderlich, dass die großen Verlage noch keine Storys via WhatsApp & Co herausgebracht haben.
Theresa Müller
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