Lesen digital – jetzt wird’s spritzig!

Spritz Screenshot

Die neue Lesetechnik Spritz Foto: Screenshot der Website

Mit der Digitalisierung von Texten verändert sich auch das Lesen. Es ist nicht mehr an das Trägermedium Papier gekoppelt und Hypertexte und Social Reading sind eine Absage an das Lesen als linearer bzw. solitärer Prozess. Aber ist das schon die digitale Revolution des Lesens? Das amerikanische Start-up Spritz geht noch einen Schritt weiter und bietet eine Technologie an, die die Textdarstellung bzw. -wahrnehmung grundsätzlich verändert.

Das Bostoner Start-up Spritz, gegründet von Frank Waldmann, Maik Maurer und Jamie Locke, ist an Fragen moderner Kommunikation interessiert und hat eine neue Lesetechnik entwickelt, mit der sich die heutige Informationsflut besser bewältigen lassen soll. Denn digitales Lesen will bei Spritz vor allem eins sein: schnell.

Wie funktioniert die neue Lesetechnik?

Beim traditionellen Lesen haben wir immer einen Gesamttext vor Augen: aneinandergereihte Wörter in mehreren Zeilen untereinander. Die Augen erfassen dabei Wort für Wort, von links nach rechts und von oben nach unten (oder, je nach Kulturkreis, von rechts nach links). Diese Bewegung der Augen ist das eigentlich Zeitaufwendige beim Lesen und für Spritz der Ausgangspunkt ihrer Technologie, die genau diese Bewegung vermeidet. In einem kleinen Feld, „redicle“ genannt, werden die Worte eines Satzes bzw. Textes einzeln nacheinander angezeigt, wobei ein Buchstabe des Wortes immer rot markiert ist. An dieser Stelle befindet sich der „Optimal Recognition Point (ORP)“, der für die Erfassung der Wortbedeutung zentral ist. Die Geschwindigkeit, in der die Wörter präsentiert werden, kann individuell eingestellt werden – von 100 bis zu 700 Wörtern pro Minute.

Wo findet die Spritz-Technologie Anwendung?

Es gibt bisher eine Reihe von Apps, die die spezielle Spritz-Technologie integriert haben. Ob E-Mails, Nachrichten- oder Wikipedia-Artikel, im Grunde lässt sich jeder digitale Text mit der Software darstellen und lesen. Auch Literatur. Mit dem E-Book Reader ReadMe! lassen sich E-Books mit bis zu 1000 Wörtern pro Minute lesen, also wesentlich schneller als die üblichen 250 WpM beim normalen Lesen. Die neue Technologie scheint insbesondere für Geräte interessant zu sein, die klein und handlich sein wollen, denn ein Spritz Text- bzw. Wortfeld (redicle) braucht nicht viel Platz. Warum also nicht den neusten Roman per ReadMe! auf einer Smartwatch lesen bzw. „spritzen“?

Ist Schnelligkeit wirklich alles?

Glaubt man den Einschätzungen des Professors für Psychologie Ralf Engbert, der sich im Interview auf Spiegel Online zu der neuen Lesetechnik geäußert hat, dann wirkt sich diese negativ auf das Textverständnis aus. Romane, längere oder komplexe Texte verlangen dem Leser, so Engbert, mehr ab als das Verstehen einzelner Wörter. Jede Geschwindigkeitssteigerung gehe auf Kosten des Verständnisniveaus. Vergegenwärtigt man sich einmal das eigene Leseverhalten, wird relativ schnell klar, was beim Lesen mit Spritz auf der Strecke bleibt: Passagen mehrmals lesen, zurück blättern, über das Gelesene nachdenken, mit dem Blick oder den Gedanken abschweifen usw. Für all solche Aktivitäten lässt Spritz keinen Raum oder vielmehr keine Zeit. Und das scheint das junge Unternehmen ganz ähnlich zu sehen: „Atlas Shrugged in a day? Technically it’s possible. You might want to take some breaks though. You might even want to stop to smell the roses. Keep in mind that just because you’ve got a Ferrari, driving it around town at 200mph is probably a bad idea.“

Also alles nur Spielerei?

Wohin eine Entwicklung zu einer immer schnelleren Textaufnahme letztlich führt, bleibt offen. Spannend ist das Projekt allemal. Es regt an, über das Leseverhalten und die dahinter liegenden Mechanismen nachzudenken. Wie nimmt das Gehirn Textinhalte auf und welche Lesetechnik trägt zum Textverständnis bei? Mit welcher Intention lese ich wie welche Texte? Ist Spritz nur ein Symptom der immensen Informationsflut, der man heute ausgesetzt ist? In jedem Fall schöpft das Start-up die Möglichkeiten der Digitalisierung voll aus – wo die Grenzen liegen, darüber lässt sich dann bekanntlich diskutieren.

Katharina Lührmann

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