War es vor einigen Jahren kaum noch möglich, mit Gedichtbänden erfolgreich zu sein, so wächst das Interesse junger Leute an Lyrik heutzutage immens. Es sind nicht mehr nur die altbekannten Backlist-Titel, die über die Ladentheke gehen – vielmehr haben sich Online-Kanäle wie Twitter oder Instagram zu Plattformen für die Verbreitung von (Dicht-)Kunst etabliert, die im besten Fall auch irgendwann in gedruckter Form erscheint. Die Netzwerke sind bestückt mit Poesie für ein Publikum jeder Altersklasse. Aktuell, weltoffen und voll von Emotionen, die LeserInnen abholen, mitreißen und die Möglichkeit zur Identifikation bieten.
Ein Paradebeispiel für derartige Online-Poesie ist die 25-jährige, in Kanada lebende Autorin Rupi Kaur. Mit ihren feministischen Gedichten und Illustrationen begeistert und inspiriert sie auf Instagram mittlerweile fast zwei Millionen Menschen und auch ihre zwei Gedichtsammlungen, die auf dem Instragram-Account aufbauen, heimsen ihr großen Erfolg ein. Ihr Debüt milk and honey hat Rupi Kaur im Jahr 2014 erst als Selfpublishing-Projekt veröffentlicht, im Oktober 2015 wurde es dann von einem Verlag übernommen und bis zum jetzigen Zeitpunkt in über 30 Sprachen übersetzt. Ihr daran anschließendes Werk the sun and her flowers erschien im Oktober dieses Jahres und ist schon jetzt ein einschlagender Bestseller. Worauf das Interesse an der jungen Schriftstellerin beruht, ist mit Sicherheit die Nähe zu ihren LeserInnen – ihre Gedichte sind leicht zugänglich, treffen den Geist der Zeit und thematisieren das, was von vielen unter den Tisch gekehrt wird. Ihrer Website zufolge handeln sie von „[…] love, loss, trauma, healing, femininity, migration“. Themen, von denen alle in irgendeiner Form betroffen sind, doch nur wenige so offen, ehrlich und unzensiert darüber sprechen wie Rupi Kaur. Die persönliche Erfahrung der Verfasserin scheint bei jedem Wort durch, was die Verse so herzlich und glaubhaft macht.
Neben Rupi Kaur gibt es viele sogenannte Instapoets, die das soziale Netzwerk mit ihren poetischen Gedanken bestücken und kreativ aufwerten. Der gleichnamige Hashtag wurde bis dato schon 107.794mal verwendet. Zu finden ist er in Verbindung mit Instagram-Accounts wie thepoeticunderground, tylerknott, langleav oder rmdrk. Sie alle wurden im Netz bekannt und sind auf dieser Bekanntheit aufbauend mit eigenen Büchern auch in die analoge Welt der Literatur eingetreten. Mit fortschreitender Digitalisierung ändern sich also in gewisser Weise auch die Abläufe und die Perspektiven – das, was vor einiger Zeit erst offline geschah und dann online ging, erscheint jetzt oft erst online und existiert, wenn es sich bewährt hat, anschließend auch offline. Inwiefern derartige Lyrik mit namhafter Poesie der Literaturgeschichte verglichen werden kann, wird sich zeigen, sicher ist aber, dass Online-Plattformen dem zurückgehenden Genre wieder mehr Beliebtheit verschaffen und es jungen Menschen ermöglichen, sich kreativ auszuleben und zu entdecken. Das, was online dann besonders begeistert, wird vielleicht irgendwann auch begeistert ins Regal gestellt.
Julia Bergemann