„Mal sehen, ob wir das auch noch etwas komprimieren können.“ – Alles wird heutzutage bis zum Umfallen reduziert, um nicht nur Platz, sondern auch Zeit zu sparen. Möglichst viel Inhalt soll in möglichst kurzer Form wiedergegeben werden, damit noch mehr Raum für Neues geschaffen wird. Selbst das Heiligtum der Christen, die Bibel, ist bereits auf die wichtigsten Grundsätze zusammengefasst worden, um der Menschheit den Umgang damit zu erleichtern. Denn der Mensch im 21. Jahrhundert will viel und kriegt nicht genug. Ihm entgegen wirkt die Zeit, die ihn in seinem Drang nach Taten und Wissen einschränkt. Die App Blinkist schafft Abhilfe.
Auch ich kann davon ein Lied singen – Masterstudium in zwei Fächern, Teilzeitjob, Freunde treffen, Freizeitaktivitäten wie Sport und Kino – an einem Tag schafft man häufig längst nicht alles, was man sich vorgenommen hat. Viel zu selten schaffe ich es, auch privat ein Buch in die Hand zu nehmen und mal wieder ausgiebig zu lesen. Und dabei möchte ich doch noch so viel wissen! Eine Buchhandlung zu betreten löst in mir daher gemischte Gefühle aus. Auf der einen Seite freue ich mich immer wahnsinnig darauf, neue Werke zu entdecken. Auf der anderen Seite wird dieses Hochgefühl schnell wieder verworfen. Ich habe ja sowieso keine Zeit.
Aber gestern war anders: Vor der Arbeit ein 232-seitiges Buch über nonverbale Kommunikation gelesen, in der Mittagspause mit The 4-Hour Workweek von Timothy Ferriss beschäftigt (352 Seiten), abends die Bücher Darm mit Charme und Team of Rivals. The political genius of Abraham Lincoln verschlungen. Alleine letzteres hat 944 Seiten. Zurecht stellt sich nun die Frage, wie das überhaupt möglich ist. Die geniale Erfindung heißt Blinkist und ist eine für IOS und Android verfügbare App, in der Sachbücher auf ihre Kernaussagen reduziert worden sind. Auf diese Weise gelingt es, den Inhalt seitenlanger Bücher innerhalb weniger Minuten aufzunehmen und Zeit für weitere interessante Bücher zu haben. 15 Minuten Lesezeit werden für einen Text angesetzt. In dieser Zeit kann man normalerweise maximal ein Kinderbuch oder einen Aufsatz lesen.
Vier Freunde hatten die Idee zu Blinkist, als sie selbst feststellen mussten, dass sie keine Zeit mehr zum Lesen hatten. Sie entwickelten die App und begannen, die wichtigsten Punkte eines Werkes zu extrahieren. Und Blinkist ist auf dem Vormarsch: Die jetzige App-Bibliothek umfasst die Zusammenfassungen von mehr als 2500 Sachbüchern (auch auf Englisch) und jeden Monat kommen über 40 neue Titel hinzu. Etwa 7 Teammitglieder sind mittlerweile an der Produktion eines Blinks beteiligt. Die Titel sind in Kategorien wie Politik, Gesundheit, Fitness & Ernährung oder persönliche Entwicklung eingeteilt, um die Nutzerführung zu vereinfachen. Leselisten sollen den*die User*in zudem bei seiner Auswahl unterstützen.
Hardcore-Buchliebhaber, die die haptische Version favorisieren, werden sich vermutlich schwer tun mit Blinkist. Die App kommt dem Lesen eines E-Books gleich, ist doch alles elektronisch. Aber dennoch bietet Blinkist auch traditionellen Leseratten zahlreiche Vorteile. Mithilfe der zusammengefassten Texte werden Wartezeiten überbrückt, ohne sinnlos am Handy rumzudaddeln. Stattdessen bildet sich der*die Nutzer*in weiter und wirft einen Blick in Bücher, die er immer schon einmal lesen wollte und welche ihm aber einfach jedes Mal zu lang waren, um sie in der freien Zeit unterzubringen. Gefällt mir das Buch so sehr, dass ich es kaufen möchte, finde ich in der App den direkten Link zum Buch bei Amazon. Die Frage ist natürlich, inwieweit Nutzer*innen auf dieses Angebot eingehen, wenn sie doch die komprimierte Version des Inhalts über die App erhalten. Denn sind wir mal ehrlich: Wer kann sich schon an jedes einzelne Detail eines gelesenen Buches erinnern?
Dass die vier Freunde mit Blinkist eine grandiose Idee für Literatur im digitalen Zeitalter hatten, beweisen die Preise, die sie dafür erhalten haben: den United Nations World Summit Award in der Kategorie Learning & Education, den Google Material Design Award und den Preis für Apple’s Best Apps of 2017. Der einzige Knackpunkt, der nicht unerwähnenswert bleiben sollte: Die Testversion steht nur für 24 Stunden zur Verfügung. Nach abgelaufener Zeit erhält der*die Nutzer*in jeden Tag ein Sachbuch umsonst. Es sei denn, er*sie entscheidet sich für eine Registrierung und ist bereit, dafür Geld zu zahlen (Jahresabo: 49,99€ / Premiumversion – mit Audiodateien: 79,99€).
Annika Vahle