Anlässlich des heutigen Welttag des Buches versuchen auch dieses Jahr wieder viele lokale und bundesweite Veranstaltungen (z.B. auch mit Buchgeschenken) jungen Menschen Literatur näher zu bringen. Und auch das Fernsehen und diverse Online-Angebote tragen dazu bei: Mit dem Jugendfilm Geheime Schatten und einer Spezialausgabe des Literarischen Quartetts “feiert das ZDF am ‘Welttag des Buches’ neben dem Medium Buch auch andere Medien, die Heranwachsenden helfen können, die Welt und ihren individuellen Platz darin besser zu verstehen” (ZDF). Im Rahmen des Schreibwettbewerbs THEO werden außerdem um 15 Uhr in einem Livestream junge Autor*innen selbstgeschriebene Texte vorstellen, die anschließend in einer Preisverleihung gewürdigt werden. Die Mission des vielfältigen Programms ist klar: Literatur an ein junges Publikum vermitteln und Autor*innen und Leser*innen von morgen aktivieren.
In den letzten Jahren entstand der Eindruck, dass viele Kinder heutzutage lieber nach dem Smartphone oder dem Tablet als nach einem Buch greifen. Dabei schließen beide Medienformen einander nicht aus, sondern können simultan existieren. Viele machen den Aufstieg des Internets für das Desinteresse an Literatur verantwortlich, allerdings gibt es sicherlich noch weitere Auslöser. Auch die Schulen und deren Lehrpläne tragen hier die Verantwortung. Wer erinnert sich nicht an die Schullektüren, die einem jeglichen Spaß an Literatur verdorben haben? Auch in meiner eigenen Schullaufbahn ist das relativ früh geschehen: In der sechsten Klasse wurde Ottfried Preußlers Krabat zu meiner persönlichen Nemesis und raubte mir jegliches Interesse an folgenden Lektüren. Erst durch Zufallsbegegnungen mit interessanten Büchern in meiner Freizeit begann ich glücklicherweise den Mehrwert von Literatur zu verstehen, wodurch ich in der Oberstufe dann auch Goethe, Shakespeare oder Lessing wertschätzen konnte. Und auch in meinem Umfeld hörte ich häufig, dass sie kein Interesse am Lesen haben, „weil wir doch so viel Langweiliges im Unterricht gelesen haben“ und dies scheinbar das Bild von Literatur nachhaltig geprägt hat. Obwohl an Lehrplänen stetig gefeilt wird, wird es weiterhin für Lehr*innen schwer sein, didaktische Verantwortung mit den individuellen Interessen der Schüler*innen zu vereinbaren. Daher gibt es andere Stellen, an denen angesetzt werden kann.
Die Arbeit, die rund um den Welttag des Buches geleistet wird, kann hier zielführend sein. Denn eines sollte bewusst sein: Lesen ist und bleibt ein Privileg. Nicht jedem fällt das Lesenlernen leicht, nicht jeder hat die Möglichkeiten, eine Lesung mit der/dem Lieblingsautor*in zu besuchen, und nicht jeder kann sich ein Buch leisten. Ein Buch geschenkt zu bekommen, so wie es bei der „Ich schenk’ dir eine Geschichte“-Aktion geschieht, ist für viele Kinder etwas Besonderes. Man ermöglicht jungen Menschen einen Zugang zu Literatur, den sie anderweitig vielleicht nicht hätten erlangen können. Es ist selbstverständlich, dass nicht jedem das Lesen liegt, aber man erweckt dann mit einer kleinen Veranstaltung oder einem geschenkten Buch doch vielleicht ein tiefschlummerndes Interesse in jemandem. Denn gerade für junge Menschen kann Literatur prägend sein.
Mal abgesehen von den verschiedenen Fähigkeiten, die durch das Lesen gefördert werden (Textverständnis, Rechtschreibung und Grammatik, etc.), kann Literatur charakterbildend werden. 1990 gab die amerikanische Kinderliteraturforscherin Rudine Sims Bishop einem ihrer Artikel den Titel „Mirrors, Windows and Sliding Glass Door“ und bot eine hervorragende Metapher, die wertvolle Aspekte von Kinder- und Jugendliteratur beleuchtet und mitunter gerne heute noch in den Literatur- und Medienwissenschaften angewendet wird. Laut Bishop dient Literatur als Fenster, durch das junge Leser*innen sehen können, um Menschen, die sich von ihnen selbst unterscheiden und zu denen sie anderweitig vermutlich keinen Bezug hätten, kennenzulernen. Die gläserne Schiebetür eröffnet den Eintritt in eine Welt, die immer da und zu sehen war, die nun aber auch betreten werden kann. Gleichzeitig sehen junge Leser*innen auch sich selbst im Spiegel der fiktionalen Welten und finden Repräsentation und Antworten zu identitären Fragen.
Es mag etwas sentimental und dramatisch klingen, aber ohne Literatur wäre ich vermutlich nicht die Person, die ich heute bin. All die Bücher mit LGBTQ+-Charakteren, mit Perspektiven von Menschen aus weit entfernten Ländern oder mit anderen Glaubensrichtungen haben mich Toleranz, Wertschätzung und Verständnis gelehrt. Vor allem wenn man in einem sehr behüteten, homogenen Umfeld aufwächst, ist dies essentiell. Auch auf anderen Ebenen funktioniert Bishops Metapher der Schiebetür: Kinder und Jugendliche werden regelmäßig unterschätzt, sind nicht so ignorant wie man denken würde und bekommen viele Weltereignisse mit. Angesichts der aktuellen Situation, in der Pandemie und Krieg die Medien überwiegen, muss diese Tür ins Fantastische, ins Irreale geöffnet werden. Denn auch junge Menschen brauchen einen Ort, um der echten Welt wenigstens für Momente entfliehen zu können.
Kindern und Jugendlichen wieder das Lesen näher zu bringen, ist eine große Aufgabe, die aber machbar ist. Natürlich reicht kein einzelner Tag, um das Interesse an Literatur ausreichend zu fördern. Aber wenn man auch nur ein paar jungen Menschen von Literatur begeistern kann, indem sie am Welttag des Buches ein Buchgeschenk erhalten oder Spaß an einer Lesung haben, ist dies schon ein großer Beitrag.
Die gebürtige Rheinländerin liebt Geschichten aller Art, seien es Bücher, Filme oder Serien. Besonders gerne begibt sie sich aber auf Reisen in fantastische oder dystopische Welten. Außerdem liebt sie die Musik und vor allem das Singen. Neben ihrer Liebe zur Literatur ist sie begeisterter Fan von Musicals und dem Eurovision Song Contest.