Dora lebt mit ihrem Partner Robert und ihrer kleinen Hündin Jochen in einem Berliner Altbau, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie ausbricht. Er ist Journalist, sie arbeitet in einer Werbeagentur als Senior-Texterin. Als die Beziehung über Roberts extremes Engagement für die Einhaltung von Corona-Maßnahmen und Klimaschutz in die Brüche geht, erfüllt sich Dora ihren Traum von einem Eigenheim auf dem Land und kauft kurzerhand ein altes Gutsverwalterhaus in Brandenburg. Da ihre Agentur mit dem Lockdown den Betrieb ebenfalls gänzlich auf Homeoffice umgestellt hat, stellt sie sich leben und arbeiten aus einem verwilderten Garten und vor allem außerhalb der Stadt doch recht idyllisch vor.
Von der Großstadt ins Nirgendwo
Bracken ist ein kleines Dorf irgendwo in der Prignitz. Dora richtet sich in dem großen Haus am Ortsrand mit dem Küchenbestand aus ihrer Studierendenzeit so gut ein, wie es geht. Sie hat viele nicht zusammenpassende Tassen, funktionierendes Internet und sehr viel Motivation, den Garten von Unkraut und Schrott zu befreien, um dort Gemüse zu pflanzen.
Stück für Stück lernt Dora den Rest des Dorfes kennen. Da ist ihr berggroßer Nachbar Gote, der sich als Dorfnazi vorstellt und ihr ein Bett baut, weil er gesehen hat, dass sie noch keins hat. Da ist das schwule Paar Steffen und Tom, das ihr netterweise ein Fahrrad leiht und mit ihr Einkaufen fährt, weil der Bus nicht kommt. Da ist Sadie, die alleinerziehend ist, in einer Gießerei Nachtschichten schiebt und mit einer Tüte Saatkartoffeln ins Haus fällt, weil sich herumgesprochen hat, dass Dora keine mehr bekommen hat. Ruppige, direkte Menschen, die sich gegenseitig unter die Arme greifen, weil man das auf dem Dorf eben so macht; nicht unbedingt, weil man sich mag.
Schubladen-Denken ist nie gut
Dora ist hin- und gerissen zwischen Faszination und Abneigung. Auf der einen Seite ist Gote AfD-Wähler, singt über ein paar Bierchen in seinem Garten häufiger mal das Horst-Wessel-Lied und verherrlicht Gewalt gegenüber Linken und der Polizei. Auf der anderen Seite hilft er ihr bei so ziemlich allem, was das Haus betrifft, und zwar ohne, dass sie fragen muss. Die Leute in Bracken haben sich in stiller Übereinkunft miteinander arrangiert. Dora kommt damit zuerst nicht zurecht. Nach und nach legt sich frei, dass auf dem Dorf eben andere Mechanismen zum Überleben notwendig sind als der in der Stadt. Dass Dora privilegierte Perspektiven aus Berlin mitgebracht hat, die dort nicht haltbar sind. Und so überwindet sie ihre eigenen Vorurteile nach und nach, indem sie sich aktiv in das Miteinander integriert und realisiert, dass ihr Schubladen-Denken nicht funktioniert. Es ist nicht immer so einfach, wie es scheint.
Juli Zeh hat mit Über Menschen einen Roman geschrieben, der nicht nur auf beeindruckende Art und Weise eine fiktiv gesellschaftlich wie private Chronik der ersten Zeit um den Ausbruch von Covid-19 zeichnet, sondern auch den Glauben daran hochhält, dass Dialog gemeinschaftliches Zusammenleben ermöglicht und dafür sorgen kann, dass sich Perspektiven ändern. Neu ist diese Botschaft nicht, aber gerade seit dem Ausbruch der Pandemie relevanter denn je.
Der Roman ist für 22,00 Euro auf der Webseite des Luchterhand-Verlags erhältlich.
Rheinländerin mit Leib und Seele. Professionelle Quasselstrippe, Schokoladenabhängige und Kaffeeliebhaberin. Kann sehr gut über Dinge fallen, über Loriot fachsimpeln und lange schlafen.