Digital Humanities, kurz DH – für viele ein fremder Begriff oder vielleicht einer aus der Kategorie: „Hab‘ ich schon mal irgendwo gehört.“ Es würde sich also anbieten, hier mit einer knackigen Definition aufzuwarten. Doch da wird es bereits knifflig. Die Frage, was die Digital Humanities denn nun sind, füllt einige Bücher; nicht zuletzt wird das Thema bei Twitter und bei Fachkonferenzen heiß diskutiert.
Wie nähern wir uns also dem Begriff? Die Seite whatisdigitalhumanities.com scheint der ideale Startpunkt. Allerdings findet man hier mehr als 500 persönliche Sichten auf ein noch junges Wissenschaftsfeld, formuliert von Menschen, die in diesem Feld arbeiten. Es ist hilfreich, zunächst von einer weiten und einer engen Definition auszugehen. Erstere könnte alle Aktivitäten in den Geisteswissenschaften umfassen, bei denen digitale Medien zum Einsatz kommen. Also auch das Nutzen eines Textverarbeitungsprogramms oder das Lesen am Bildschirm. Eine enge Definition würde die DH als konkretes Wissenschaftsfeld fassen, das sich zunächst als Humanities Computing und seit ca. zehn Jahren unter dem aktuellen Namen formierte.
Der Digital Humanist John Unsworth beschrieb dieses Feld der DH einmal so: „The application of computational methods to research and teaching in the humanities.“ Diese Erklärung bleibt zwar immer noch vage, ist für eine erste Orientierung aber nützlich. Die DH sind im Übrigen nicht nur ein formales Wissenschaftsfeld, sondern auch eine ausgeprägte Gemeinschaft. Sie sind auf internationaler und nationaler Ebene in Verbänden organisiert. 2013 wurde der Verband „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd) gegründet.
Aber wie wirken sich die DH nun auf das literarische Feld aus? Die wissenschaftlichen Methoden der DH können in vielen Disziplinen eingesetzt werden: von der Linguistik über die Geschichtswissenschaft und Archäologie bis hin zur Literaturwissenschaft. Von der digitalen Literaturwissenschaft wird auch als Computerphilologie gesprochen. Hier spielt die Digitalisierung von Texten in forschungstauglichen Formaten eine wichtige Rolle. Computergestützt können dann z.B. riesige Textsammlungen analysiert und durchforstet werden. Eine Methode dieser quantitativen Textanalyse ist die sogenannte „Stilometrie“. Sie bedient sich statistischer Mittel, um einen Sprachstil zu analysieren und Texte einzuordnen und kann u.a. helfen, die Autoren anonymer Texte zu enttarnen. Viele Digital Humanists unterstreichen, dass auch mit derartigen Forschungsmethoden die Arbeit des Wissenschaftlers keinesfalls überflüssig wird. Die Technik stellt vielmehr ein wichtiges Hilfsmittel dar. Eine Auswahl von interessanten Forschungsprojekten aus allen Disziplinen zeigt der DHd-Verband hier.
Und wie werde ich Digital Humanist? Allein im deutschsprachigen Raum bieten ca. 16 Unis unterschiedliche Möglichkeiten. So kann auf einen traditionellen Bachelor-Studiengang ein DH-orientierter Master folgen und umgekehrt. Auch die Kombination einer Geisteswissenschaft mit (angewandter) Informatik ist denkbar. Die Studiengänge reichen von „Interdisziplinäre Medienwissenschaft“ über „Informationsverarbeitung“ bis hin zu „Mensch-Computer-Interaktion“ und „Computing in the Humanities“ – einen Überblick gibt es hier.
Soviel ist klar: Die DH sind ein wissenschaftliches Feld mit Zukunft. Doch den teils euphorischen Verfechtern, die mit den DH eine neue Ära einläuten wollten, stehen natürlich Skeptiker und Gegner gegenüber. Allgegenwärtig ist die Angst vor einer feindlichen Übernahme durch den Computer und seine künstliche Intelligenz. Auch eine mangelnde Theoretisierung wird kritisiert. Andere beklagen eine einseitige Auswahl der Forschungsgegenstände. Doch diese Kämpfe sind nicht neu. Sie treten immer wieder auf, wenn etwas Neues, Unbekanntes dem Anschein nach das vorher Dagewesene und Bewährte in Frage stellt oder zu verdrängen droht. Dabei wird, wie so oft, das Potenzial der Zusammenarbeit, des produktiven Mittelwegs, übersehen. Diesen sollten auch traditionelle und digitale Geisteswissenschaften zukünftig gemeinsam beschreiten.
Linda Englisch