Von den Brontë-Schwestern haben sicherlich die meisten schon einmal gehört: Charlotte, Emily und Anne sind einige der großen Autorinnen des 19. Jahrhunderts. Leider ist die jüngste der berühmten Schwestern auch gleichzeitig die unbekannteste. Ihre Schwestern sind mit den Werken Wuthering Heights und Jane Eyre mittlerweile weltbekannt. Dass Anne lange Zeit übersehen und unterschätzt wurde, ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch ihr Werk durchaus lesenswert ist. Der hier vorgestellte Roman überzeugt mit seinem feministischen Ansatz und seiner Gesellschaftskritik, die auf kluge Art und Weise in dem Werk verarbeitet werden. Nicht umsonst zählen einige Literaturwissenschaftler*innen The Tenant of Wildfell Hall (deutsch: „Die Herrin von Wildfell Hall“) heute zu einem der ersten feministischen Romane.
Der Roman wird zunächst aus der Sicht von Gilbert erzählt, der in einem kleinen Dorf in England lebt. Eines Tages taucht die junge Helen Graham im alten Haus am Rande des Dorfes auf – eine verwitwete junge Frau, die ihren Sohn allein aufzieht und ihren Lebensunterhalt selbst bestreitet. Als wäre das nicht schon mysteriös genug, hält sie sich von den anderen Anwohnern eher fern, ist sehr schweigsam und lässt sich zum Entsetzen der Anwohner auch nicht in die „zu verweichlichte Erziehung“ ihres Sohnes hineinreden.
Als die Gerüchte sich überschlagen, stellt Gilbert Helen zur Rede. Er hat Gefühle für die junge Frau entwickelt und möchte den Erzählungen über sie keinen Glauben schenken. Helen vertraut Gilbert daraufhin ihr Tagebuch an. Der viktorianische Mann, der ein klares Bild von der Gesellschaft hatte, taucht ein in Helens toxische Ehe und versteht nach und nach, welchen Hürden Frauen in missbräuchlichen Partnerschaften gegenüberstehen und wie die Gesellschaft Frauen benachteiligt und ausgrenzt.
Der Roman ist für seine Zeit revolutionär und stellt sich gegen die gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Anne zeigt die Missstände verständlich auf und kritisiert die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Auch in der heutigen Zeit ist der Roman durchaus noch lesenswert, um die Lebensrealität von Frauen vor knapp 200 Jahren nachvollziehen zu können.