Liebe. Was bedeutet eigentlich Liebe?
Laut Duden-Definition beschreibt das Substantiv „Liebe“ u. a. folgendes: 1a) starkes Gefühl des Hingezogenseins; starke, im Gefühl begründete Zuneigung zu einem [nahestehenden] Menschen; 2a) gefühlsbetonte Beziehung zu einer Sache, Idee, o. Ä.; 3. Gefälligkeit; freundschaftlicher Dienst […].
Summa summarum: Es geht um (starke) Emotionen und Zwischenmenschlichkeit bzw. zwischenmenschliche (Liebes-)Beziehungen. „Freundschaftlicher Dienst“ verweist einerseits auch auf wohlwollende Verbindungen, zugleich zeigt der „Dienst“ auch eine Zweckmäßigkeit oder Verpflichtung auf.
Doch wie menschlich ist das, was sich zwischen den Menschen abspielt? Und was umfasst Liebe tatsächlich? Diesem Themenkomplex geht Şeyda Kurt mit ihrem Werk und Programm der radikalen Zärtlichkeit auf den Leib.
Worum geht es?
Es handelt sich hierbei nicht um einen Beziehungsratgeber wie man ihn jetzt erwartet. Vielmehr zeigt Kurt auf, dass Liebe, so träumerisch-naiv wie man sie sich zunächst einmal immer vorstellt, gar nicht so harmlos ist. Liebe ist ein komplexes Konstrukt und in gewisser Weise sogar ein Deckmantel. Liebe wird durch Medien, Eltern sowie die Gesellschaft vorgegeben bzw. bestimmte Schemata, Bilder, Rollen werden forciert und als solches zumeist unreflektiert befolgt.
„Warum Liebe politisch ist“ heißt es im Untertitel. Und dass dies eine Tatsache ist, wird im Alltag von vielen, zumeist privilegierten weißen, heterosexuellen Personen nicht als solches empfunden. Wie wir lieben, wen wir lieben, unsere Rollen hierbei etc.: All jene Dinge sind (politische) Konstrukte und leider nicht jede*r Person in gleicher Weise sowie gleichem Maße möglich.
Kurt setzt dem Begriff „Liebe“ deswegen eine „radikale Zärtlichkeit“ entgegen:
Zärtlichkeit und Liebe sind beides Substantive. Doch scheint es, dass dem Wort der Zärtlichkeit eine direktere Aufforderung zugrunde liegt – die des tatsächlichen Zärtlichhandelns. Ich sehe Zärtlichkeit dort, wo Menschen zärtlich zueinander sind, ganz konkret, und diese Zärtlichkeit kann viele Formen haben. Doch immer ist sie von einem Handeln geleitet: ein Sprechen, ein Schauen, eine Bewegung […]. Es geht um ein Handeln, das einem anderen Menschen zuspielt, mit ihm spielt, bejahend und produktiv, ohne ihm schaden zu wollen. Bei Zärtlichkeit denkt kaum jemand an Gewalt (S. 15).
Zahlreiche Beispiele aus Film, Fernsehen und Popkultur, oder auch anschauliche Rückgriffe auf Theorien von Eva Illouz, Karl Marx oder Judith Butler zeigen auf – wie hierarchisch, diskriminierend und insgesamt gewaltsam „Liebe“ ist bzw. sein kann. Denn: Traditionelle Normen und kapitalistische, patriarchale Denkmuster sind insgesamt wenig liebevoll. Nicht jeder darf gleich l(i)eben.
Kurt will „Unordnung stiften“ (S. 22). Und das zurecht. Und vollkommen erfolgreich. „Radikale Zärtlichkeit“ regt zum Nachdenken an. Das Werk zeigt einem (gesellschaftliche, politische, soziokulturelle) Missstände auf und animiert Leser*innen dazu, die eigenen Ansichten zu hinterfragen und gängige Normen anzuzweifeln, was sich im Optimalfall auch auf das eigene zwischenmenschlichen (Er-)Leben bzw. die Akzeptanz anderer Formen auswirkt.
Ich möchte also Zärtlichkeit nicht nur in meinen Beziehungen leben, sondern darüber hinaus ihre Bedingungen hinterfragen. […] Ich verstehe radikale Zärtlichkeit als ein Programm der Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit der Zärtlichkeit in der eigenen Beziehung, den scheinbar privatesten Spielräumen und darüber hinaus, gibt es nur dann, wenn sie für alle gilt (S. 21).
Unordnung erweckt häufig Angst. Doch in diesem Falle: Unser „freundschaftlicher Dienst“ bzw. radikal zärtlicher Freundschaftsdienst muss es dringend sein, Fehler in Politik, Normen, Traditionen etc. zu lesen, anzuerkennen und mittels Unordnung Veränderungen füreinander einzuleiten.
Also: Radikal dringende Lese-Empfehlung!
(HarperCollins, 224 Seiten, 18 Euro)