Welche Auswirkungen hat der digitale Wandel auf das akademische Publizieren und auf die Verbreitung und Rezeption von Wissen? Welche Potenziale bergen digitale Medien und wie werden sie gegenwärtig im akademischen Betrieb genutzt? Vor welchen Herausforderungen stehen die verschiedenen Stakeholder des Wissenschaftsbetriebs? Diese und weitere Fragen waren Gegenstand der Konferenz Open Knowledge? Potentials of Digital Publishing in the Academic World, die am 27. April am Essener Campus der Universität Duisburg-Essen stattgefunden hat. Wir sind der Einladung der Global Young Faculty gefolgt und haben uns den Tag über unter die TeilnehmerInnen gemischt.
Die Arbeitsgruppe Potenziale Digitaler Medien in der Wissenschaft der Global Young Faculty III von MERCUR brachte als Veranstalter der Konferenz hochkarätige SprecherInnen zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Potenzialen und Herausforderungen des digitalen Publizierens befassten.
Den Anfang machte Dr. Markus Neuschäfer, Projektleiter bei der Open Knowledge Foundation, der in seinem Vortrag Rewiring the Ivory Tower? Digital Universities and the Evolution of Open Science einen ersten Einblick in die Entwicklung und die Möglichkeiten von Open Science gab.
Neuschäfer: new technologies have potential to decrease control of knowledge but still subject to old habits (IP laws, anxieties) #gyf3ok
— Kathleen Fitzpatrick (@kfitz) 27. April 2015
Can’t hardly await @mneuschaefer conclusion to the claim that digital = less control. #gyf3ok — Hybrid Publishing (@HyPub) 27. April 2015
Dr. Thomas Stäcker, stellvertretender Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Leiter der Abteilung Neuere Medien/ Digitale Bibliothek, thematisierte in seinem Vortrag den digitalen Wandel im Publikationsprozess aus Sicht der Bibliotheken, die ihm zufolge eine wichtige Rolle spielen. Als einer der zentralen Stakeholder im akademischen Publikationsprozess (neben Wissenschaftlern, Verlagen und akademischen Einrichtungen) seien sie in der Lage, neue Publikationsmodelle voranzubringen, insofern sie attraktive Standards im Bereich der digitalen Publikation schaffen und etablieren könnten. Stäcker legte dar, dass sich vor allem zwei grundlegende Aspekte ändern müssten, um die vorhandenen Potenziale des digitalen Wandels nutzen zu können: Es müsse zum einen eine Verlagerung hin zu einem strukturellen Publizieren stattfinden – und damit weg von Layout-basierten Publikationsformaten wie beispielsweise pdf. Zum anderen sieht Stäcker eine Notwendigkeit in der Stärkung von Open Access und freien Lizenzen (z.B. der CC-Lizenzen) für die Archivierung von elektronischen Publikationen. In der gegenwärtigen Situation, in der es Bibliotheken nicht erlaubt ist, digitale Inhalte ohne die Genehmigung der Verlage aufzubewahren, sieht Stäcker eine der grundlegenden Funktionen von Bibliotheken als langfristiges Archiv gefährdet.
Die aus New York angereiste Wissenschaftlerin Kathleen Fitzpatrick, eine der führenden Forscherinnen im Bereich Digitale Medien, hielt in der Keynote der Konferenz einen fesselnden Vortrag, der inhaltlich, rhetorisch und medial absolut beeindruckte. In ihrer Publikation Planned Obsolescence: Publishing, Technology, and the Future of the Academy, deren Inhalte sie in ihrem Vortrag in verdichteter Form präsentierte, untersucht sie den digitalen medialen Wandel und dessen Potenziale, Herausforderungen und Implikationen für bzw. auf das akademische Publizieren und die Wissenschaft allgemein. „Planned Obsolescence“ wurde dabei von ihr zunächst als Online-Publikation veröffentlicht, die von Beginn an offen für Kommentare stand, die Fitzpatrick für ihre Arbeit an dem Buch mit berücksichtigte. Die Printausgabe wurde erst später veröffentlicht.
„The academic book is not dead, it is undead.“ @kfitz applies zombie-logic to academic publishing #gyf3ok @unidue @gyfblog
— Lisa Reingruber (@lmreingruber) 27. April 2015
@kfitz on digital scholarly publishing: „The book’s content’s not obsolete, but the system, the process a book brings into being.“#gyf3ok
— Thomas Ernst (@DrThomasErnst) 27. April 2015
Aus der letzten dieser zwei zentralen Thesen Fitzpatricks, die Thomas Ernst in seinem Tweet paraphrasiert, erwuchs ihr Projekte Media Commons, das als digitale Vernetzungsplattform für WissenschaftlerInnen die Potenzialen des Internets für die Forschung nutzt bzw. auf der institutionellen Ebene neue Arbeitsprozesse und Publikationsformen etablieren möchte. Neben der Vorstellung dieses Projekts eröffnete Fitzpatrick in ihrem Vortrag ein ganzes Panorama an Themen und Fragen, darunter die Thematik einer digitalen Peer-Review-Praxis, die Frage nach der Struktur und dem Status von Online-Texten und theoretische Überlegungen hinsichtlich unseres Konzepts von Autorschaft und Originalität. Bei aller Reflektion über die Potenziale und Herausforderungen des Digitalen für die Zukunft der wissenschaftlichen Forschung betonte Fitzpatrick stets, dass nicht allein die technischen Innovationen von Bedeutung seien. Diese seien zwar wegbereitend und notwendig, aber im Wesentlichen komme es auf die Einstellung und Haltung aller Beteiligten im Wissenschaftssystem an, die sich hinsichtlich neuer Arbeitsweisen und -techniken offen und reflektiert zeigen müssten.
Den Abschluss der Konferenz bildeten die Vorträge von Dr. Thomas Ernst und Dr. Stephan Winter, die als Mitglieder der Global Young Faculty III die Forschungsergebnisse ihrer Arbeitsgruppe vorstellten.
„How would Max Horkheimer do his Mail today?“, fragt @DrThomasErnst an der @unidue. #gyf3ok #digitalmedia @gyfblog
— Digitur (@DigiturEssen) 27. April 2015
Die Arbeitsweise Horkheimers, die Thomas Ernst in einem Video zu Beginn seines Vortrags zeigte, veranschaulicht die tiefgreifenden Veränderungen, denen die wissenschaftliche Arbeit in den letzten Jahrzehnten unterlag. In seinem Vortrag präsentierte Thomas Ernst die Ergebnisse des „Zweitveröffentlichungs-Projekts“, das sich mit dem deutschen Zweitveröffentlichungsrecht befasst: Inwieweit ist es WissenschaftlerInnen erlaubt, ihre Texte digital zugänglich zu machen? Stephan Winter stellte weiterhin die Ergebnisse seiner Studie vor, die die Wahrnehmung von wissenschaftlichen Informationen im Internet untersucht. Vor dem Hintergrund, dass das Internet zu einer zentralen Informationsquelle auch von wissenschaftlichen, komplexen Themen geworden ist, war es Ziel der Studie, Antworten u.a. auf die folgenden Fragen zu erhalten: Wie erfassen Rezipienten (Studierende sowie Laien) Wissenschaftsinformationen online? Wie gehen sie mit den immensen Datenmengen um? Wie lassen sich passende und glaubwürdige Informationen online finden und selektieren? Wie gut können sie mit der Komplexität von Wissenschaftsinhalten umgehen?
Stephan Winter: Study shows scientific information shouldn’t be kept to simplistic – else readers might not trust it. #gyf3ok — Auerhuhn (@auerhuhn) 27. April 2015
Stephan Winter: GYF3 Study shows laypersons are open to complex (two-sided) online science information. #gyf3ok
— Auerhuhn (@auerhuhn) 27. April 2015
Von diesen Ergebnissen ausgehend spreche Winter zufolge viel dafür, komplexen wissenschaftlichen Themen im Internet eine Plattform zu geben.
Das Stimmungs- und Meinungsbild erschien bei allen Vortragenden sehr einheitlich: Die digitalen Medien bergen auf allen verschiedenen Ebenen Potenziale für das wissenschaftliche Arbeiten. Es bleiben dabei allerdings noch eine ganze Reihe von Fragen und Problemen offen. In allen Vorträgen wurde die Kluft zwischen den Potenzialen digitaler Medien und den etablierten Regularien und institutionellen Strukturen, die mit den rasanten technischen Entwicklungen konfligieren, deutlich hervorgehoben. Thomas Stäcker sowie Kathleen Fitzpatrick erklärten diesen Umstand mit der konservativen oder ängstlichen Haltung, die die meisten von uns gegenüber neuen Entwicklungen zunächst einnähmen. Stäcker zufolge sei es zudem hilfreich, sich retrospektiv den medialen Wandel der Vergangenheit vor Augen zu führen, um den gegenwärtigen Wandel zu verstehen: Es habe immer schon Zeit gebraucht bis sich neue Technologien und Praktiken durchgesetzt hätten – insbesondere im Bereich des Publikationswesens, das Stäcker als Teil der kulturellen Identität skizziert.
Die Konferenz setze sich nicht nur inhaltlich mit den Potenzialen digitaler Medien auseinander, sondern wusste sie auch in der Praxis zu nutzen. So wurde Markus Neuschäfer, der krankheitsbedingt nicht vor Ort sein konnte, kurzfristig via Skype zugeschaltet. Zudem ließ sich die Konferenz entweder per Livestream oder auf Twitter unter dem Hashtag #gyf3ok mitverfolgen. Die Tatsache, dass es noch einige virtuelle TeilnehmerInnen der Konferenz gab, milderte zumindest ein wenig den Umstand, dass die Stuhlreihen im Großen und Ganzen eher spärlich besetzt blieben, was in Anbetracht von Sprecherinnen wie Kathleen Fitzpatrick doch sehr schade war.
Bei allen offenen Fragen und Hürden, die noch zu klären und nehmen sind, blieb am Ende der Konferenz der Eindruck, dass alle Beteiligten im Wissenschaftsbetrieb gut beraten sind, am medialen Wandel aktiv teilzunehmen und ihn aktiv mitzugestalten, um die Potenziale digitaler Medien für die Wissenschaft voll nutzen zu können. Aber auch, um unerwünschte Auswirkungen der Digitalisierung nicht aus dem Blick zu verlieren.
Katharina Lührmann