In unserem Special „Kein Weihnachten ohne Bücher“ habe ich euch Little Women von Louisa May Alcott ans Herz gelegt. Was ich an dem Roman besonders wertschätze, sind die vielen Briefe, die die Familie March sich gegenseitig schicken. In ihnen dokumentieren die Charaktere die markanten Ereignisse in ihrem Leben – von Krankheit und Verlust über berufliche Erfolgserlebnisse hin zu persönlichen Meilensteinen. Das geschriebene Wort ist dabei mehr als nur eine Dokumentation von Ereignissen. Vielmehr kommunizieren die Charaktere ihre Gedanken und Träume, erzählen die Geschichten ihres Lebens und verleihen ihren Gefühlen Ausdruck.
„Ein Brief ist ein Gefühlt fast wie Unsterblichkeit“ – Emily Dickinson, 1869
Auch in der Literaturgeschichte sind Briefe kaum wegzudenken. Dicke Buchbände und umfangreiche Sammlungen dokumentieren die Gedanken, Ideen und Entwicklungen großer Autorinnen und Autoren. So können die Leserinnen und Leser von heute die Korrespondenz zwischen Friedrich Schiller und Wolfgang von Goethe nachlesen, sich ein Bild von der DDR aus der Sicht von Christa Wolf und Franz Fühmann machen und Emily Dickinson auf ihrer Lebensreise begleiten. Das sind nur wenige von vielen Beispielen, die sich in der Weltliteratur finden. Auch darüber hinaus erfreuen sich Briefe bis heute an großem Interesse. So hat sich im Weißen Haus etwa eine Tradition entwickelt, nach der ein Präsident sein Amt mit einem Brief an seinen Nachfolger übergibt.
Briefe – im 21. Jahrhundert?!
Dabei braucht es heute scheinbar keine Briefe mehr. Unsere Kommunikation findet im Wesentlichen digital statt. Nahezu in Echtzeit können wir jederzeit unsere Bekanntschaften kontaktieren; wir können Bilder, Musik oder Sprachaufnahmen mit ihnen teilen. Die einzige Verzögerung, die uns bleibt, ist die Zeitverschiebung zwischen entfernten Ländern. Dabei haben Briefe doch etwas Romantisches an sich: Sie fangen unsere Gedanken, unseren Blick auf die Welt in diesem einen Moment ein und verewigen ihn, machen ihn unsterblich.
Klar, eine WhatsApp-Nachricht ist auch ein „niedergeschriebener“ Gedanke. Und doch sind die zwei nicht zu vergleichen… Ein Brief schreibt sich nicht nebenher, er ist die Hauptattraktion. Wenn ich einen Brief schreibe, dann setze ich mich bewusst an den Tisch, wähle mein Paper und den Stift sorgfältig aus, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Ich mache mir Gedanken – was möchte ich schreiben? Vielleicht beschreibe ist erstmal das Hier und Jetzt:
Ich sitze gerade im Zug nach Nürnberg. In der Dämmerung eines regnerischen Wintertags nähert sich die Skyline Frankfurts. Der Himmel, ein bläuliches dunkelgrau, weder Sonne noch Mond zu sehen. Die nassen Gleise glitzern im Licht der Laternen. Die Hochhäuser erstrahlen in vollem Glanz. Ein Bild wie im Film oder auf einer Postkarte: Vor dem Himmel der einbrechenden Nacht erleuchten die Fenster, die Glasfassaden der hohen Gebäude, in warmem, gelb-orangenem Licht. Vereinzelt geht ein Licht aus – es ist ja auch schon nach 18 Uhr, Feierabend. Wer sich wohl hinter den beleuchteten Fenstern aufhält? Ob jemand aus dem Fenster schaut und sich wundert, wer wohl hinter den beleuchteten Fenstern des einfahrenden ICEs sitzt?
Und dann geht es in den eigentlichen Brief über. Ich überlege, von welchen Ereignissen in meinem Leben ich berichte, welche Gefühle und Gedanken ich teile, welche Fragen ich stelle. Und so füllt sich nach und nach mit Leichtigkeit erst das erste, dann das zweite Blatt Papier. Denn, um einen Brief zu schreiben, braucht es kein bemerkenswertes literarisches Talent. Einer anderen Person eine Freude bereite ich schon damit, dass ich mir die Zeit für sie nehme. Kaum ein Brief bleibt unbeantwortet – in meiner Erfahrung kommt stets ein herzliches Dankeschön zurück, „wie schön, dass du an mich denkst.“
Ein Neujahrsvorsatz
Und doch mache ich das so selten, einen Brief schreiben. Geburtstagskarten für meine Familie, Freundinnen und Freunde. Weihnachtspost für meine Bekanntschaften, vor allem diejenigen an entfernten Orten. Zwischendurch ein kleines Dankeschön an meinen Freund. Das war’s aber auch schon. Ich merke, dass sich mein Leben zunehmend im digitalen Raum abspielt. Der beste Beweis: meine immer schlimmer werdende Handschrift. Doch gerade zur Weihnachtszeit – für mich eine Zeit der Reflexion – wächst in mir der Wunsch, mehr im Hier und Jetzt zu leben. Offline zu kommunizieren statt online. Meinen
Freunden mitzuteilen, dass ich dankbar für ihre Treue und das viele gemeinsame Lachen bin. Neue Freundschaften zu knüpfen. Also habe ich mir vorgenommen: Dieses Jahr fällt die Weihnachtspost etwas umfangreicher aus als die sonst kompakte Karte. Nächstes Jahr möchte ich dann öfter mal zu Stift und Papier greifen, vielleicht lässt sich der oder die ein oder andere auf die Schneckenpost ein. Und vielleicht habe ich auch euch motiviert, den alten Schulfüller mit Tinte zu füllen und euren Liebsten einfach mal eine kleine, nette Botschaft zu schreiben. Schon ganz bald, so meine Hoffnung, landen in unseren Briefkästen nicht mehr nur Rechnungen und Werbung.
„Snail Mail“-Freunde im Web 2.0
Und wer sich noch nicht wohl damit fühlt, Gedanken und Ideen auf diese Weise mit Familie und Bekannten zu teilen, oder wer gern neue Leute kennenlernen möchte, für die oder den gibt es die Möglichkeit, sich langsam heranzutasten: Online-Plattformen wie beispielsweise Global Penfriends oder PenPal World ermöglichen uns, neue Freundschaften über Ländergrenzen hinweg zu schließen. Zuerst wird online gechattet. Die Fühler ausgestreckt, sozusagen. „Wer bist du, welche Interessen teilen wir, was geht dir durch den Kopf?“ Oftmals handelt es sich dabei bereits um kurze (oder auch lange) Briefe im digitalen Format. Das nimmt den Druck, direkt die fertige Endversion zu verfassen – geht aber trotzdem über die kurze WhatsApp-Textnachricht hinaus. Wer sich gut versteht, kann den nächsten Schritt wagen: die Brieffreundschaft. Postkarten werden ausgetauscht und Briefe überqueren die Weltmeere – oder manchmal auch nur den Rhein. So ganz altmodisch und offline.