Ob die traditionelle Idee des Buches unangetastet bleibt, wenn es über Crowdfunding finanziert wird; ob der Autor sein Selbstverständnis ändert, wenn er im Zuge dessen den Schreib- und Produktionsprozess mit seinen Unterstütztern teilt – darüber reflektiert der Literaturwissenschaftler Thomas Ernst am Beispiel eines aktuellen Experiments des digitalen Schreibens mit dem programmatischen Titel „Eine neue Version ist verfügbar“. Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in der Berliner Gazette und basiert auf einem Vortrag, der am 11. Mai 2013 in der Evgl. Akademie Tutzing gehalten wurde.
Eine neue Version ist verfügbar von Dirk von Gehlen ist nicht einfach nur ein Buch, sondern vielmehr ein Experiment: es beschäftigt sich inhaltlich mit der Frage, wie man in digitalen Zeiten die Produktion von Text in einer neuen Weise finanzieren kann und inwiefern sich die Produktion von Texten selbst verändert. Diese Fragen werden jedoch nicht nur im Buch thematisiert, sondern sowohl bei der Finanzierung als auch bei der Produktion des Buches zu beantworten versucht. So hat Dirk von Gehlen erstens das Buch über eine kollektive Finanzierung selbst in die Welt gebracht, zweitens hat er die Finanzierer und interessierten Leser bereits in den Produktionsprozess des Textes eingebunden.
Die Crowd kommt, der geniale Einzelautor geht
Unsere heutige Kultur wird noch immer geprägt von Konzepten, die in der Gutenberg-Galaxis etabliert wurden und die die spezifischen Sinn- und Bedeutungssysteme einer bürgerlichen Gesellschaft gestützt haben. Dazu zählt beispielsweise die Vorstellung vom alleinigen Schöpfer eines kulturellen Produkts, von der genialen Idee am Anfang, von der Abgeschlossenheit des Werkes oder der Einbahnstraße vom Autor zu seinen Rezipienten.
Dirk von Gehlens Grundthese lautet demgegenüber: „Die Digitalisierung macht Kunst und Kultur zu Software – zumindest sollten wir sie, um die veränderten Bedingungen im Digitalen verstehen und nutzen zu können, wie Software denken. Wir sollten den Begriff der Version dem des abgeschlossenen Original-Werkstücks entgegenstellen.“ In seinem Projekt experimentiert von Gehlen mit zwei zentralen Größen des Literaturbetriebs: erstens mit dem Verlag als dem entscheidenden Gate-Keeper, der über die kulturelle und ökonomische Relevanz von Veröffentlichungen wacht; zweitens mit dem solitären Autor als dem Produzenten eines Textes.
Von Gehlen hat sein Vorgängerbuch „Mashup. Lob der Kopie“ 2011 noch beim hochkulturellen Suhrkamp-Verlag vorgelegt. Indem er sich nun jenseits eines Verlages über die Crowdfunding-Plattform Startnext finanziert, ersetzt er die Vorstellung, dass eine von Experten besetzte Kulturinstitution wie ein Verlag Buchprojektideen auswählt oder forciert, durch die Idee, dass die LeserInnen selbst ExpertInnen der Textauswahl sind. Zudem war im Konzept des Projektes vorgesehen, dass sich die Crowd auch an der Produktion des Textes beteiligen sollte, was heute als Crowdsourcing bezeichnet wird.
Damit wird zugleich der Topos, dass ein guter Text vor allem dem Gehirn eines Autors entspringt, von der Vorstellung abgelöst, dass nur eine Crowd in der Lage sei, differenziert, gut, und komplex zu denken – wie dies beispielsweise der Grundgedanke der Wikipedia ist. Crowdfunding und Crowdsourcing sollen also das Leitbild des genialen Einzelautors, der von Verlagsexperten ausgewählt und gefördert wird, ablösen.
Die These von der Verflüssigung der Kultur
Die zentrale These des Buchs lautet, dass wir Kultur als Software verstehen sollten. Kulturelle Produkte würden wie eine Software kollektiv produziert, in Zusammenarbeit mit den Nutzern verbessert, auf neue Versionen hin angelegt und somit „flüssige Gegenstände“.
Von Gehlens Buch selbst ist natürlich auch ein solches Kulturprodukt. Wie sieht so eine „Verflüssigung“ in der Praxis nun aus? Wie bei anderen Büchern auch, wird das Buch durch Kapitel strukturiert, die einer linearen Argumentation folgen. In den theoretischen Teilen des Buches erarbeitet von Gehlen seine Grundthese und belegt sie an zahlreichen Beispielen. Dabei beschäftigt er sich mit der Idee der flüssigen Kultur, der Verflüssigung des Alltags und der Kunst sowie mit Formen der Kulturproduktion in verflüssigten Welten.
Im Wechsel mit diesen Theoriekapiteln führt er Interviews mit verschiedenen Theoretikern und Praktikern der flüssigen Kultur: es geht dabei um die Declaration of Liquid Culture von Jörg Blumtritt, Sabria David, und Benedikt Köhler, um das Projekt Liquid Newsroom von Steffen Konrath, das Bundes-Git von Stefan Wehrmeyer, den Wandel vom Werkstolz hin zum Netzwerkstolz mit Professor Wolfgang Ullrich und um das Naked-Writer-Projekt von Silvia Hartmann.
Daneben treten drittens Elemente, die wir aus klassischen Büchern kennen, wie ein Glossar und ein Vorwort, jedoch auch überraschende Elemente, die den experimentellen Charakter des Projektes repräsentieren: ein Postskriptum, das Einwände des Lektors gegen einzelne Thesen und Verfahrensweisen des Buches offen legt, sowie eine Übersicht über die Startnext-UnterstützerInnen des Projektes.
Experiment geglückt?
Da sich von Gehlens Buchprojekt als Versuchsaufbau betrachten lässt, ist die Frage nach dem Erfolg legitim. Das Projekt hat zwei sehr große Leistungen vollbracht: Zunächst ist es ein äußerst erfolgreicher Versuch, ein Buchprojekt über Crowdfunding zu finanzieren. Es hat die ursprüngliche Zielsetzung einer Anschubfinanzierung von 5.000 Euro um nahezu das Dreifache übertroffen und kann daher als ein erfolgreiches Referenzprojekt dienen, wenn zukünftig über Crowdfunding-Buchprojekte diskutiert wird.
Zweitens war es ein großes Wagnis des Autors Dirk von Gehlen, unter ständiger Beobachtung seiner Crowd innerhalb von wenigen Monaten tatsächlich ein über 200-seitiges Buch fertigzustellen. Dass dies überhaupt gelungen ist, ist sehr beeindruckend.
Zugleich zeigt dieses Projekt jedoch, dass die neuen digitalen Möglichkeiten für die Produktion von Büchern im Sinne von Crowdfunding und Crowdsourcing bislang erst teilweise genutzt werden, selbst bei einem Projekt wie jenem von Dirk von Gehlen, das es vor allem darauf angelegt hat. So war es der Crowd zwar möglich, den Produktionsprozess zu begleiten: wöchentliche E-Mails informierten über den Stand des Projekts, über (das allerdings noch recht statische Format der) PDFs konnte die Crowd auf den jeweils aktuellen Gesamttext zugreifen. Es standen Audiodateien der Lektoratsgespräche zur Verfügung und es gab einmal ein gemeinsames Liveschreibexperiment, das über den Cloud-Dienst Google Drive abgewickelt wurde.
Sowohl der Autor als auch seine Crowd stellen jedoch fest, dass von einer kollektiven Textproduktion nur in Ansätzen gesprochen werden kann. Dies zeigt auch der Text selbst, der von einem klaren Ich, das auf den Autor Dirk von Gehlen verweist, strukturiert wird. Zudem ist auffällig, dass die meisten Unterstützer des Projekts an seinem Ende ein Buch (in der Papiervariante) für ihren Einsatz bestellt haben, während am Ende des Prozesses doch eigentlich eine Datei stehen müsste, die der Crowd zur einfachen kollektiven Fortschreibung des Textes dienen könnte.
Ist Gehlens Versuchsaufbau auf andere Projekte übertragbar?
Wir sind in einer sehr widersprüchlichen Situation: Die digitale Revolution macht einerseits prinzipiell die Existenz von Verlagen und Einrichtungen wie das Lektorat überflüssig, da wir alle unsere Texte einfach online veröffentlichen und somit weltweit distribuieren können. Auf der anderen Seite wissen wir, dass künstlerische Experimente, komplexe literarische Werke oder wissenschaftliche Studien meist darauf angewiesen sind, dass sie in ausreichend finanzierten Freiräumen entstehen können. In der Gutenberg-Galaxis haben sich verschiedene Modelle der Subventionierung oder Ko-Finanzierung entwickelt, mit deren Hilfe u.a. Künstlerhäuser, Theater, Verlage oder akademische Institutionen diese Räume der Kreativität bereitstellen.
Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Buchwelt und in den digitalen Medien zeigen, dass sich die Formen der Textproduktion und Distribution noch weiter differenzieren werden: Es gibt auch weiterhin akademische Institutionen, in denen komplexe wissenschaftliche Arbeiten entstehen können. Allerdings wird es immer wichtiger, dass die dort produzierten und öffentlich finanzierten Forschungsergebnisse für die Öffentlichkeit leichter zugänglich werden. Die großen Wissenschaftsorganisationen haben entsprechende Erklärungen über die Notwendigkeit des Open Access zu Forschungsergebnissen bereits abgegeben.
Daneben werden auch weiterhin insbesondere literarische Produktionen im stillen Kämmerlein und auf relativ traditionellen Wegen entstehen. So haben beispielsweise auch schon in der Gutenberg-Galaxis die allermeisten LyrikerInnen vom Verkauf ihrer Gedichte nicht wirklich leben können, dennoch haben Verlage und öffentliche Einrichtungen Wege gefunden, sie in ihrem Schaffen zu unterstützen.
Schließlich werden sich jedoch vermehrt auch Veröffentlichungsformen etablieren, die die digitalen Möglichkeiten des Crowdfunding und/oder des Crowdsourcing nutzen, viele Autoren werden auch einfach – wie es nun bereits millionenfach geschieht – unhonoriert die Ergebnisse ihres Schreibens im World Wide Web veröffentlichen, teilweise auch nur, um auf diesem Wege symbolisches Kapitel für andere Geschäftsmodelle zu sammeln.
Flüssiges Schreiben mit hölzernen Werkzeugen
Das Projekt „Eine neue Version ist verfügbar“ lässt sich als ein gutes Beispiel für ein erfolgreiches Crowdfunding-Buchprojekt bewerten, während der Aspekt des Crowdsourcing hier eher wenig ausgeprägt ist. Das ist natürlich schade, denn somit löst das Buch nur unzureichend ein, was es selbst konstatiert und postuliert. Allerdings muss man das Projekt zugleich wieder vor seinen eigenen Ansprüchen in Schutz nehmen: Weder ist die Software für das kollektive Schreiben bereits ausgereift genug, noch waren die ungefähr 350 UnterstützerInnen des Projektes bereits geschult genug, in wenigen Monaten gemeinsam ein 200-seitiges Buch zu verfassen.
Vielleicht wäre es eine bessere Idee gewesen, gar nicht mehr von einem „Buch“ zu sprechen, da das Konzept „Buch“ selbst eigentlich alles andere als flüssig ist: Auch Dirk von Gehlen nutzt strukturierende Elemente wie Vorwort, durchnummerierte Kapitel, ein Postskriptum, ein Glossar und eine Danksagung.
Man kann beispielsweise Twitter als einen Kollektivtext aus zahllosen kurzen Einzeltexten begreifen. Der Twitter-Hashtag fungiert dann als ein strukturierendes Element, das auf Tastendruck die Kurztexte zu einem thematisch gebundenen neuen Kollektivtext kompiliert. Ein paar Tage später kann der Text wieder ganz anders aussehen. Dies zeigt ganz gut, wie heute in den digitalen Welten ein kollektiver Text produziert, strukturiert und rezipiert wird.
Das heißt natürlich zugleich, dass auch die Textformate der Gutenberg-Galaxis, wie beispielsweise der Roman als eine lange literarische Form, zunehmend historisiert werden. Bereits in den 1950er Jahren und in direkter Nachfolge des Holocaust erklärte Theodor W. Adorno kategorisch: „[E]s läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt. Der Roman war die spezifische Form des bürgerlichen Zeitalters.“
Schon einige Dekaden zuvor hatten die historischen Avantgarden die literarischen Formate des bürgerlichen Zeitalters radikal unterlaufen. Das spezifisch bildungsbürgerliche Gedankengebäude mit seiner Fixierung auf das Buch und dessen Subjekt-Narrationen stand trotz dieser Risse lange Zeit recht stabil, die Digitalisierung entzieht ihm jedoch sein mediales Fundament.
Wenn man nun darauf beharrt, dass Texte jenseits der großen Romane Thomas Manns oder der Dramen Friedrich Schillers keine Literatur seien, wird man die historischen Dimensionen des aktuellen Wandels nicht wahrnehmen können. Wenn man jedoch literarische Texte eher breit als Texte definiert, die mit literarischen Mitteln wie Ironie, Übertreibung, modifizierten Zitaten etc. arbeiten, wird man Texte mit literarischen Qualitäten in völlig neuen Formatierungen entdecken (wobei sich dies bei literarischen, journalistischen und wissenschaftlichen Textformen unterschiedlich darstellt).
Die Änderungen dieser Formatierungen und unseres Verständnisses von Texten ändern auch unsere kulturellen Kategorien und somit unsere Kultur selbst. Momentan zwängen wir jedoch noch die neuen Textphänomene in unser altes Begriffskorsett, indem wir beispielsweise immer wieder das sehr spezielle Medienformat Buch aufrufen. Oder mit Dirk von Gehlen gesprochen: wir versuchen, eine verflüssigte Kultur des Schreibens in unsere hölzernen Begriffsschubladen zu sortieren. Mal schauen, wann unser Kategorienschrank zu schimmeln beginnt.
Thomas Ernst