Vor gut einem Monat haben wir bereits über den Online-Roman „Zwei Mädchen im Krieg“ berichtet. Bei diesem Projekt rief der Fischer Verlag neun Autoren und Autorinnen dazu auf, gemeinsam und doch getrennt voneinander, eine mosaikartige Geschichte zu erzählen, während gleichzeitig die eigene und die Herangehensweise der Kollegen kommentiert werden durfte. Damals war gerade die erste von drei Schreibwochen angebrochen, am letzten Wochenende wurde das Endergebnis auf der Leipziger Buchmesse präsentiert. Autor Fridolin Schley war einer der ersten Autoren, die sich dem Erzähl-Experiment in der ersten Woche gestellt haben.
Lieber Herr Schley, war „Zwei Mädchen im Krieg“ ihre erste kollektive Schreiberfahrung oder haben Sie schon zuvor an vergleichbaren Projekten teilgenommen?
Ja, ein paar Mal, aber eher im halböffentlichen Rahmen, nichts, was man heute noch nachlesen könnte. Derlei Gemeinschaftsprojekte sind gerade unter jungen Autoren recht beliebt, auch an Schreibschulen. Aber meist kommt nach großem Anfangsenthusiasmus nicht wirklich viel dabei heraus. Beim Fischer-Projekt war das zum Glück anders, was auch an der sehr guten Leitung lag.
Hatten Sie Bedenken bei dem Projekt?
Ich hatte, wie wohl die meisten der Kollegen/innen, Bedenken hinsichtlich des schwierigen Themas, zu dem ja noch kaum einer eine felsenfeste Haltung entwickeln konnte, des ‚richtigen‘ ästhetischen Ansatzes und der Kürze der Vorbereitungszeit. Aber dann dachte ich: Wer wenn nicht ein Netz-Experiment kann und sollte sowas anpacken?
Haben Sie vor dem Schreiben erfahren, wie Ihre Kollegen die Aufgabe angehen?
Nein, im Grunde nicht. Ich glaube, so kam es auch allen interessanter vor. Man reagiert aufeinander, aber der Anfang musste ein Blindflug sein. Zwei Tage vor der Online-Schaltung habe ich mich mit meinen beiden ‚Wochen-Kollegen‘ darüber verständigt, dass eben alles online, also gewissermaßen on the road stattfinden sollte, nichts im Hinterzimmer. Ich wusste nur, dass Jan Brandts Geschichte in Berlin spielen würde und dass Jakob Nolte das Thema ebenfalls über Bande anging.
Wussten Sie direkt, wie Sie Ihren Beitrag umsetzen?
Nicht sofort, aber relativ schnell, vielleicht nach ein paar Tagen Bedenkzeit. Bei mir startete die Reflexion über ganz einfache Selbstbefragungen: Was heißt politisches Schreiben für mich? In Frage stellen. Welche scheinbare Selbstverständlichkeit möchte ich in Frage stellen, weil ich sie für problematisch halte? Unsere bequeme Delegierung der Ursachen des ‚Dschihad-Tourismus‘ an eine fremde böse Macht. Ich wollte den inneren Antrieb der Mädchen-Figuren einmal für sich betrachten, nicht gleich einordnen unter den üblichen Ex-post-Interpretationen und dem Wissen, wie diese Geschichten offenbar meist ausgehen. Mich interessierten ihre Euphorie, ihr Heilsstreben, ihre Ängste und inneren Überhöhungen. Und plötzlich kommt man da zu Strukturen, die nicht mehr so fremd sind, sondern sogar besonders deutsch – den Strukturen des Bildungsromans.
Sie haben aus der Ich-Perspektive von Samira erzählt, die durch Polizeiakten gefiltert ist. Wieso haben Sie sich für diese besondere Erzählform entschieden?
Mich störte an dem öffentlichen Dschihad-Diskurs, dass so viel über die Jugendlichen gesprochen wird, aber selten mit ihnen. Die Literatur kann da einen anderen Weg wählen. Die Realitätsfiktion leiht der Figur eine Stimme, auch wenn sie natürlich fiktiv ist. Auf eigene Weise ist sie aber dennoch wahr. Ich wollte sie – mitunter auch durch authentische Einsprengsel – so gestalten, dass man sie fast für dokumentarisch halten könnte – und man zugleich von etlichen Fiktionssignalen immer wieder eines Besseren belehrt wird. Im Idealfall steht der Leser so unter permanenter Verunsicherung, wabert durch einen Nebel aus Fiktion und Wirklichkeit, ist durch die Form der Unmittelbarkeit berührt – und das obwohl er rational weiß, dass er gewissermaßen einem narrativen Taschenspielertrick aufsitzt.
Hat das Interesse, durch Medien zu erzählen, dabei ebenfalls eine Rolle gespielt?
Den Erzählbruch durch das Medium mitzuerzählen ist ja seinerseits ein uraltes Erzählmittel. Zu Zeiten des klassischen deutschen Bildungsromans war zum Beispiel die Herausgeberfiktion sehr beliebt. Im Grunde ist meine Interpol-Akte nichts anderes. Ich will hier jetzt nicht groß in die Theorie der Medialität eintauchen, das kann man alles seit vielen Jahren in klugen Abhandlungen nachlesen. Für unser Erzählexperiment bedeutete das aber ganz simpel: Es wäre für sich schon eine zweifelhafte Fiktion, zu glauben, man könnte etwas objektiv Wahres über das Thema ‚Zwei Mädchen im Krieg‘ schreiben. Denn alles, was ich dazu sagen kann, beruht auf eigenen Annahmen, Mutmaßungen, etwas Empathie – vor allem aber auf dem, was ich rezipiere, also dem, was die Medien mir vermitteln. Die Meta-Ebene hat deshalb wohl auch bei fast allen Ansätzen eine dominante Rolle gespielt. Und natürlich ist auch meine Akten-Fiktion darauf zurückzuführen.
Woher stammen die eingeflochtenen (Beweis-)Fotos und wie heißt die schwarze Katze mit dem Bademantel wirklich?
Die Fotos stammen aus verschiedenen Quellen; die meisten habe ich selbst geschossen, andere sind dem Netz entnommen oder alten privaten Beständen. Das Bild der Tante Natalie in der Moschee zeigt zum Beispiel in Wahrheit meine Freundin. Entstanden ist es vor Jahren während eines Malaysia-Urlaubs. Einerseits machen derlei Täuschungsmanöver beim Schreiben natürlich einfach Spaß. Aber sie spitzen schon auch vieles von dem zu, was mir bei der Umsetzung eines solchen Themas wichtig erscheint. Allein, dass Sie nach dem Hintergrund der ‚Beweise‘ fragen, zeigt ja eine gewisse Rezeptionsverunsicherung. Wie wahr sind heute noch Bilder? Welche Referenz belegen sie? Auf die Spitze getrieben wurde dieser Effekt dann bei einigen Freunden, die berichteten, sie hätten sich, als sie erkannten, wer ‚Tante Natalie‘ auf dem Foto war, plötzlich sehr erschrocken.
Und die Katze: heißt in Wirklichkeit Mucki.
Ihr Text bedient sich neben der arabischen Sprache insbesondere der Jugendsprache. Wie schwierig war es für Sie, auf dem schmalen Grat zwischen „authentisch“ und „gezwungen-gestelzt“ zu balancieren?
Das ist ein Riesenthema, über das wir in der Kommentarspalte viel diskutiert haben. Ich denke, dass der Grat so schmal ist, dass er eigentlich gar nicht sichtbar existiert. Authentisches oder Scheinauthentisches wirkt im fiktionalen Rahmen unweigerlich pseudoauthentisch, ist ja klar. Das hat man z.B. vor ein paar Tagen gut beobachten können: Da erschienen in der Süddeutschen Zeitung Tagebuchzeugnisse eines Mädchens aus Bayern aus den Tagen vor ihrer Ausreise in den ‚Heiligen Krieg‘. Das war schon ziemlich unheimlich, auch weil ich ganz ähnliche Sätze ja erst vor wenigen Wochen meiner Hauptfigur in den Mund gelegt hatte. Aber der Rahmen gehört eben zum Bild. Gleichlautendes wirkt in einem ‚wahren’ Brief ganz anders als in einem, von dem man annimmt, dass er erfunden ist oder zumindest in einem erfundenem Erzählrahmen steckt. Aber deswegen diese Form von Rollenprosa einfach von vorneherein ausklammern? Ich halte nicht viel von solchen Ästhetiknormen. Für mich war wichtig: Wenn ich schon die Innensicht einer Figur erfinde, muss ich auch bereit sein, ihre Sprache zu sprechen, allen Peinlichkeiten zum Trotz. Wo, wenn nicht hier, dürften sie ihren Platz haben? Zugleich sollte nicht der Eindruck entstehen, ich würde mir anmaßen, die realen Vorbilder sprachlich vollends zu verstehen. Da liefe man Gefahr, eben jene im Schreiben zu okkupieren. Es sind also Widerhaken im Text nötig, die die eigene prekäre Schreibposition andeuten, auch ihre Zweifelhaftigkeit. Bei mir sind das etwa eingebaute intertextuelle Bezüge oder offene Gestaltungsmittel wie starke Sprachrhythmisierungen (z.B. in der langen Mail an Nenad), die die Scheinauthentizität der Realitätsfiktion unterspülen.
Das Erzählexperiment bestand aus einem Mix aus Schreiben und Kommentieren. Während in den ersten beiden Wochen noch reichlich diskutiert wurde, gab es in der letzten nur noch einen Beitrag von Initiator Thomas von Steinaecker. Wie ergiebig empfanden Sie den Austausch?
Ich fand ihn interessant, gerade auch weil er buchstäblich ins Leere lief. Die Form brachte es ja mit sich, dass es letztlich eher Statements waren und kein Gespräch entstand. Aber es wurden darin doch viele wichtige Punkte angerissen. Eine so fragmentarische Auseinandersetzung mit den eigenen Mitteln passt gut zum Experiment-Charakter des Ganzen. Es wäre ja eher befremdlich, wenn sich elf Autoren bei so kniffligen Fragen einig würden. Ich fand es subjektiv allerdings nicht ganz einfach, in real time doppelt zu sprechen: als Autor und zeitgleich in der Metaebene. Es geht dann fast automatisch in so eine Richtung der Selbstpositionierung und –rechtfertigung, die nicht immer weit führt.
Schreiben im Netz untersteht anderen Bedingungen als das Schreiben für eine Buchpublikation. Welche Vorteile (oder auch Nachteile) haben Sie darin für sich entdecken können?
Beides ist in einem Paradox vereint: Zum Reiz des Schreibens im Netz gehört die Schnelligkeit. Man kann auf ein Thema fast unmittelbar reagieren. Das ist aber auch ein Problem, denn der Literatur herkömmlicher Art ist eine gewisse Langsamkeit eigen, eine Tendenz zur Verzögerung, die auch zu ihrer besonderen Nachhaltigkeit beiträgt. Hinzu kommen andere Vorteile des Online-Schreibens, die auf der Hand liegen – die Vernetzung, die Multimedialität, die (scheinbare) Unabhängigkeit von Marktmittlern … das muss ich jetzt hier nicht alles ausführen. (Interessantes hat hierzu aber z.B. Thomas Palzer in seinem eBook „Das kommende Buch“ veröffentlicht.) Aber fast alle diese Punkte haben auch Kehrseiten. Schreiben fürs Netz ist nicht unbedingt besser oder schlechter als das analoge, es ist einfach anders, zumindest kommt es mir momentan noch so vor. Aber ob das so bleibt – ich bin mir da nicht sicher. Meine Haltung zur Netzliteratur schwankt seit Jahren zwischen Skepsis und Euphorie. Momentan empfinde ich sie aber als einen schönen offenen Raum voller Möglichkeiten.
Hat sich das Online-Schreiben auf Ihre Schreibgewohnheiten ausgewirkt?
Nein, bisher nicht. Nur während des Projekts. Aber ich merke schon, dass die Schnelligkeit, Unmittelbarkeit und Rohheit des Online-Schreibens mich locken. Ich könnte mir erstmals vorstellen, einen Blog zu beginnen.
Im Kommentar der zweiten Woche schreiben Sie, dass Ihnen Thema und Zeitdruck zu schaffen gemacht haben. Gleichzeitig haben Sie sich nach eigener Aussage „selten bei einem Schreibprojekt so frei und leicht gefühlt“. Wie passt das zusammen?
Es sind zwei Seiten einer Medaille, zumindest wenn man sich das Phänomen des Scheiterns ansieht. Ich habe das im Kommentar ja ausgeführt. Kurz gesagt: Im Grunde war allen Beteiligten des Projekts klar, dass wir nur scheitern konnten. Alles andere wäre auch eine problematische Annahme, denn will man wirklich, dass ein Schreiben über etwas so schwer Vorstellbares wie eine freiwillige Selbstauslieferung an Tod und Terror im herkömmlichen Sinne gelingt? Kann es dafür überhaupt eine angemessene Form geben? Vielleicht ist der scheiternde Versuch die einzig angemessene Form. Beim Schreiben kann diese Einsicht befreiend wirken. Denn wenn man nicht gewinnen kann, hat man auch nicht mehr viel zu verlieren.
Herzlichen Dank!