Wie kann man die Potenziale digitaler Medien für das wissenschaftliche Arbeiten optimal nutzen? Oder konkreter gefragt: Wie könnte das digitale Publizieren eine bessere wissenschaftliche Praxis fördern? Diese wichtigen Fragen, an denen weltweit viele Forscherinnen und Forscher theoretisch und praktisch arbeiten, werden auch im deutschsprachigen Raum intensiv bearbeitet. Einer der wichtigsten Akteure ist der noch junge Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum, der 2012 gegründet wurde und in wenigen Wochen in Graz seine zweite Jahrestagung begehen wird.
Auf der ersten Jahrestagung, die im März 2014 in Passau stattfand, wurden verschiedene AGs eingerichtet, die sich intensiver mit wichtigen Fragen der Digital Humanities beschäftigen sollten, eine davon hat sich im letzten Jahr unter der Leitung von Dr. Thomas Stäcker (stv. Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) zum Thema „Digitale Publikationen“ formiert. Vor wenigen Tagen hat die AG nun ihr vorläufiges Arbeitspapier zur Zukunft des digitalen Publizierens in der Wissenschaft, insbesondere in den Digital Humanities, vorgelegt, das Ende Februar in Graz diskutiert werden soll. Das Papier beschreibt vor allem die zahlreichen Vorteile digitaler Publikationen in der Wissenschaft, die sich unter den Leitbegriffen Offenheit, Interaktivität und Flexibilität fassen lassen:
„Die Natur des Textes selbst wandelt sich und die bei digitalen Dokumenten favorisierte Trennung von Struktur- und Layoutschicht (z.B. mittels XML/XSLT) verlangt nach einer neuen Form des ‚strukturellen’ Lesens und Schreibens, die einerseits die ‚Bedeutung’ von Textteilen (z.B. durch Markup) weit eindeutiger als zuvor zu explizieren erlaubt, andererseits die Oberfläche eines Textes zugunsten bedarfsbezogener Anzeigevarianten flexibilisiert.“
Aus diesem medientheoretischen Wandel des Textes ‚an sich’ leiten sich jedoch weiter reichende Potenziale digitaler Veröffentlichungen ab: sie vereinfachen kollaborative Erkenntnisprozesse und die laufende Abbildung von Diskursen, erlauben einen einfacheren Zugriff und direkte Verbindungen zu anderen Texten, erreichen andere Öffentlichkeiten und Disziplinen, ändern somit letztlich das Funktionieren und die gesellschaftliche Position der Wissenschaft selbst. Damit diese Potenziale fruchtbar gemacht werden können, ist eine freie Verfügbarkeit wissenschaftlicher Texte unabdingbar:
„Eine Schlüsselfunktion nehmen bei allen digitalen wissenschaftlichen Publikationen Open Access (OA) und freie Lizenzmodelle (z.B. nach Creative Commons) ein. Beide schaffen die Voraussetzungen für barrierefreies Forschen und werden damit zu zentralen Bedingungen wissenschaftlichen Publizierens.“
Eine solche offene, interaktive und flexible digitale Veröffentlichungspraxis bringt jedoch zugleich etliche Probleme mit sich, die das Papier klar benennt: Es wäre zu klären, welche (neuen) digitalen Publikationsformen noch als ‚wissenschaftliche Veröffentlichung’ zu werten sind; wie die Qualitätssicherung in einer solchen offenen Publikationswelt (jenseits der früheren Gate Keeper) gewährleistet werden kann; wie mit Formen einer intensivierten kollaborativen Autorschaft zu verfahren wäre (in Institutionen, die auf individualisierte Karrieren angelegt sind); wie die Langzeitarchivierung digitaler Plattformen zu sichern ist; wie mit den zahlreichen rechtlichen und ökonomischen Fragen dieses Wandels produktiv umzugehen wäre.
Während sich also die meisten Publikationspraxen in den Geisteswissenschaft noch jenseits offener, interaktiver und flexibler digitaler Formate bewegen, definiert das Papier einen Standard für eine bessere, digitale Wissenschaft. Darüber hinaus benennt es die fundamentalen Probleme, die aus einer umfassenden digitalen Publikationspraxis in den Geisteswissenschaften resultieren. Wir werden sehen, wie das Papier in Graz diskutiert wird; es kann gerne bereits vorab unter diesem Posting kommentiert werden.
Disclaimer: Der Autor dieser Zeilen ist Mitglied der AG, jedoch nur eine Stimme unter vielen, und fasst hiermit den Diskussionsstand zusammen. Inwiefern es sich bei diesem Posting um einen wissenschaftlichen Beitrag handelt, wäre auch noch zu klären (der Autor selbst würde ihn als wissenschaftsjournalistischen Beitrag eines Wissenschaftlers, also als Teil der Wissenschaftskommunikation, aber nicht als genuin wissenschaftlich kategorisieren).