Dass die Digitalisierung bessere Arbeits- und Erkenntnisprozesse in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre ermöglicht, dürfte Konsens unter den „Digitur“-LeserInnen sein – und dazu gehören auch dynamische Online-Semester- apparate. Zugleich prognostiziert der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Prof. Dr. Horst Hippler, dass bald „die für ein modernes Studium unverzichtbare digitale Bereitstellung von Texten schmerzhaft eingeschränkt wird.“ Wie kann das sein? Und was kann man gegen diese Entwicklung unternehmen?
Die KultusministerInnen der Länder haben mit der VG Wort einen neuen Rahmenvertrag zur Vergütung von Ansprüchen nach dem § 52a des Urheberrechtsgesetzes geschlossen, der zum 1.1.2017 wirksam wird. Der § 52a regelt die öffentliche Zugänglichmachung von „kleine[n] Teilen eines Werkes, Werke[n] geringen Umfangs sowie einzelne[n] Beiträge[n] aus Zeitungen oder Zeitschriften“ für Unterricht und Forschung. In den letzten Jahren hatten sich die Lehrenden an Hochschulen und ihre Studierenden an die Ausnahmeregelung (‚Wissenschaftsschranke’, vgl. auch das Buch von Katharina de la Durantaye) gewöhnt, (nur) bis zu 12% eines Buches bzw. maximal 100 Seiten oder einen Aufsatz von max. 25 Seiten in geschlossenen Online-Semesterapparaten verfügbar machen zu dürfen. Diese gerichtlich definierten Grenzen waren in der konkreten Umsetzung zwar skurril, innerhalb dieser Margen war die Bereitstellung aber unproblematisch, da sie pauschal abgegolten wurden.
Der neue Rahmenvertrag macht Online-Semesterapparate unpraktikabel
Diese Praxis ändert sich nun: Für alle urheberrechtlich geschützten Texte, die in Online-Semesterapparaten bereitgestellt werden, soll ab dem 1.1.2017 genau nachgehalten werden, wie viele Seiten für wie viele TeilnehmerInnen vorgehalten werden, damit die VG Wort genaue Vergütungen für die jeweiligen Texte abführen kann. Der Rahmenvertrag folgt einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2013, der es für vertretbar hält, dass die Hochschulen bzw. natürlich ihre Dozierenden und BibliothekarInnen diese Zahlen minutiös nachhalten (vgl. zu den Hintergründen die Übersicht von iRights.info). Die Hochschulrektorenkonferenz wiederum hält den Rahmenvertrag für „unpraktikabel“, wie ihr Präsident, Prof. Dr. Horst Hippler, formuliert, weshalb mehrere Bundesländer, unter ihnen auch Nordrhein-Westfalen (siehe sechste Frage), den Rahmenvertrag nicht unterzeichnen, weil sie auf praktikable Alternativen hoffen. So denkt beispielsweise die Universität Duisburg-Essen über die Nutzung der alternativen Booktex-Plattform nach, die allerdings nur eine eingeschränkte Lösung wäre (wie Frank Lützenkirchen erläutert). Zumindest für eine Übergangszeit kann diese Entwicklung also heißen, dass Studierende wieder am Kopierer stehen und einen Aktenordner mit den Papierkopien ihrer Seminarlektüren ins Seminar schleppen müssen: Goodbye, Social Reading von digitalen Dokumenten…
Die Chance ist jedoch groß, dass dieses absurde Rollback – ein Zusammenspiel von Rechtsdiskurs, Politik, Verwertungsgesellschaft und Verlagsinteressen – endlich ein größeres Bewusstsein bei Studierenden und Lehrenden über die Relevanz digitaler Medien in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre provoziert. Dieses Bewusstsein wäre auf zwei Ebenen wichtig: Erstens ist es in einer digitalen Gesellschaft zentral, dass Lehrende und Studierende weitaus besser über die politischen und rechtlichen Debatten informiert sind, als sie dies in der ‚Gutenberg-Galaxis’ waren, in der die praktischen Fragen des Publizierens den Verlagen überlassen wurden. Zweitens zeigt die aktuelle Debatte noch einmal, wie wichtig es ist, dass ForscherInnen ihre Veröffentlichungen im Sinne des Open Access frei verfügbar machen – denn diese Probleme entstehen nur bei Veröffentlichungen, die urheberrechtlich geschützt sind. Verschiedene Arbeitsgruppen, zum Beispiel aus dem Bereich der Digital Humanities, arbeiten derzeit daran, Standards für digitale wissenschaftliche Veröffentlichungen zu definieren und zu verbreiten, die eine solche Orientierung bieten sollen. Dazu gehört beispielsweise das Working Paper Digitales Publizieren der gleichnamigen AG im Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum oder The Vienna Principles der Arbeitsgruppe Open Access and Scholarly Communication des Open Access Network Austria.
Die #Siggenthesen und andere Manifeste als Antwort?
In diesem Kontext ist auch ein Manifest zu sehen, das ich gemeinsam mit vierzehn anderen ErstunterzeichnerInnen aus den Bereichen Forschung, Lehre, Bibliotheken und wissenschaftliche Infrastrukturen, Wissenschaftsverlage, Lektorat, Übersetzung, Verlagsberatung, Wissenschaftsblogs, Online-Publikationsplattformen und Online-Zeitschriften verfasst habe und das wir zum Tag des Buches am 24.10.2016 und zur Open Access Week veröffentlicht haben. Die #Siggenthesen zum wissenschaftlichen Publizieren im digitalen Zeitalter gehen von der Feststellung aus, dass die Potenziale des digitalen Publizierens in der Wissenschaft „aus strukturellen Gründen gegenwärtig noch viel zu sehr blockiert“ werden. Die aktuelle Debatte um die neue Umsetzung des § 52a wirkt wie eine Exemplifizierung dieser Grundannahme.
Dabei war es uns um etwas ganz anderes gegangen: Wir hatten uns im Rahmen des Programms „Eine Woche Zeit“ in das Gut Siggen an der Ostsee zurückgezogen (siehe auch den Bericht von Ben Kaden auf Libreas) und aus unseren jeweils unterschiedlichen Kontexten über die Potenziale des digitalen Publizierens für die wissenschaftliche Forschung und Lehre nachgedacht sowie vor allem die Frage reflektiert, wie diese Potenziale noch besser genutzt werden könnten. Die Ergebnisse unserer Reflexionen haben wir dann in zehn Thesen zusammengefasst, die nicht den Anspruch erheben, besonders neu oder innovativ zu sein (vor allem Programmierer sehen die technischen Möglichkeiten schon viel weiter), sondern eher den Versuch darstellen, aus unterschiedlichen Kontexten heraus ein gemeinsames Programm zu definieren, das einen aktuellen Mindeststandard zur Nutzung digitaler Publikationsmöglichkeiten in der Wissenschaft formuliert, an dem institutionelle Entscheidungen, individuelle Praxen und wissenschaftliche Entwicklungen (z.B. Rahmenverträge und die Nutzung digitaler Medien in konkreten Lehrveranstaltungen) gemessen werden können.
Darin formulieren die fünfzehn #Siggenthesen-AutorInnen unter anderem: „Der Erwerb und Einsatz digitaler Kompetenzen ist für die Ausbildung, Lehre und Forschung fundamental.“ Der erläuternde Teil zu dieser These stellt fest, dass es für die Lehre an den Hochschulen unumgänglich sei, „technische (Code lesen, Programmieren, Algorithmen verstehen) und handwerkliche Aspekte (kollaboratives und vernetztes Arbeiten, Social Reading, Multimedialität)“ digitaler Mediennutzung zu erlernen – diese Notwendigkeit werde allerdings derzeit „vollkommen unzureichend“ umgesetzt. Dass in diesem Zusammenhang „gerade auch die Lehrenden lernen“ müssen, zeigt unsere aktuelle Debatte um die fragliche Zukunft der Online-Semesterapparate, denn ein kollektiver Aufschrei der Dozierenden (und Studierenden) bleibt derzeit noch aus. Andere #Siggenthesen befassen sich mit der problematischen Rolle der traditionellen Großverlage, der Notwendigkeit des Open Access in der Wissenschaft und digitaler Expertise bei Infrastrukturentscheidungen sowie der Relevanz von transparenten Daten und von Webmedien wie Blogs, Wikis und anderen sozialen Medien für den offenen Wissenschaftsdiskurs.
Die #Siggenthesen können am Ort ihrer Erstveröffentlichung, dem Redaktionsblog von Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, kommentiert und/oder unterzeichnet werden (siehe auch die Debatten bei Twitter). Man kann sie auch unproblematisch in Online-Semesterapparate einfügen, denn sie stehen unter der Lizenz CC BY 4.0. Wie auch alle Postings dieses Weblogs – dafür ein Dank an die „Digitur“-Redaktion…
Thomas Ernst