Neulich wurde ich wieder einmal zu einem Speed-Reading-Workshop an der Uni eingeladen, um zu lernen, noch mehr Text in noch kürzerer Zeit zu lesen. Als Studentin der Geisteswissenschaften muss ich jede Menge Texte lesen, auf der Arbeit funktioniert auch nichts ohne Lesen und auf Facebook, Twitter und Co wäre es langweilig sich nur die Bilder anzuschauen. Wenn ich Artikel im Internet lese, die mich eigentlich interessieren, erwische ich mich immer häufiger dabei, wie ich nach ein paar Absätzen nach unten scrolle, um zu schauen, wie lang der Artikel noch ist. So viele Informationen über so viele unterschiedliche Themengebiete und ich merke: Ich verliere die Lust am Lesen.
Zum Glück gibt es immer mehr Internetseiten, die über ihre Artikel schreiben, wie lange man braucht, um den jeweiligen Beitrag zu lesen, so zum Beispiel bei Revierpassagen. Nachdem ich den Teaser zu den Beiträgen gelesen habe, kann ich so entscheiden, ob ich weiterlesen will und ob ich überhaupt die Zeit habe, weiterzulesen. Bei den E-Book-Readern wird ohnehin angegeben, wie viel Prozent des Buches dem Leser bzw. der Leserin noch bleibt und wie lange er oder sie noch dafür brauchen wird. Bevorzugt man gedruckte Bücher, schaffen einige Internetseiten Abhilfe, indem sie die voraussichtliche Lesedauer eines Buches angeben, immer gemessen an der durchschnittlichen Words-per-minute-Geschwindigkeit. So werden zum Beispiel für Paula Hawkins‘ Thriller Girl on the Train im englischen Original 4 Stunden und 45 Minuten angegeben, bis man das Buch bei einer Geschwindigkeit von 300 Wörtern pro Minute vollständig gelesen hat.
Schön und gut, doch was sagt mir das? Dass ich nicht schnell genug lese, wenn ich fünfeinhalb Stunden für das Buch brauche? Dass ich mir auch noch bei einer Freizeitbeschäftigung Zeitdruck mache, obwohl ich dieser eigentlich für mich und aus Spaß an der Sache nachgehe? Ich will nicht, dass Apps meine Lesegeschwindigkeit trainieren, nur damit ich in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen verarbeite, die ich aber genauso schnell wieder vergesse. Ich will nicht testen, wie schnell ich im Vergleich zu anderen Menschen lese. Ich will keinen Wettkampf aus meinem Lesen machen, sondern mich einfach zurücklehnen und mich auf den Text einlassen. Und ganz nebenbei dem Schriftsteller oder der Schriftstellerin meinen Tribut zollen, indem ich ihre Texte nicht überfliege, sondern sie wirklich lese. Natürlich gibt es Bücher, die ich verschlinge, die ich gar nicht mehr aus der Hand legen will, weil sie so mitreißend, spannend, emotional oder lustig sind. Aber auch dann ist es meine Entscheidung, wie lange ich für eine Seite brauche, ob ich mir Notizen an die Seite mache oder ob mich das Buch noch länger vom Schlafen abhalten darf.
Mit dieser Einstellung bin ich nicht alleine: Vor ein paar Jahren hat sich in Neuseeland als Gegenbewegung zum Speed Reading bereits der Slow Reading Club gegründet, um zumindest das Lesen zu entschleunigen und wieder mehr genießen zu können. So gibt die Gründerin, Meg Williams, auf ihrem Blog Tipps zum Slow Reading: Beispielsweise empfiehlt sie, sich wirklich Zeit zum Lesen zu nehmen und währenddessen das Smartphone auszuschalten und sich nicht ablenken zu lassen. Das muss man sicherlich erst wieder neu lernen, doch erst dann merkt man, wie schön es ist, sich ganz auf einen Text zu konzentrieren und sich von den Geschichten mitreißen zu lassen. Außerdem rät Williams, sich auf ein Buch zu fokussieren und sich von dem schier endlosen Angebot an E-Books nicht verrückt machen zu lassen. Auch hier spielt Druck eine Rolle: Ein Buch zur gleichen Zeit genügt, man muss nicht jegliche Bestseller lesen und sich dadurch wieder selbst unnötig Zeitdruck machen.
In Deutschland gibt es bislang noch keine Slow Reading Clubs, dafür haben sich analog dazu sogenannte Silent Reading Partys entwickelt. Die simple Grundidee: Statt zum gemeinsamen Feiern trifft man sich zum gemeinsamen Lesen. Auch hier gibt es in Deutschland bisher eher wenige Veranstaltungen, erste Versuche gab es bereits in Kiel und Düsseldorf, doch eine Veranstaltungsreihe ist bis dato noch nicht daraus entstanden. Doch wenn sich das gemeinsame Tatort-Gucken in Kneipen durchgesetzt hat, warum nicht auch das gemeinsame Leseerlebnis? Ich jedenfalls könnte mir vorstellen, mich zum Lesen zu treffen, denn ich merke, dass ich mich immer seltener voll und ganz auf einen Text einlassen kann. Und deshalb als Appell an mich selbst und an Euch alle: Nehmen wir uns einfach mal wieder mehr Zeit zum Lesen!
Carolin Terhorst