An alle Daheimgebliebenen: Wir waren auch nicht auf der re:publica TEN. Trotzdem hat es uns brennend interessiert, welche Themen (vor allem literarisch-kultureller Natur) auf der mutmaßlich größten Netzmesse Deutschlands diskutiert wurden. Zum Glück ging es nämlich doch nicht nur – wie Spiegel Online es bissig formulierte – um „Snapchat und Snowden“. Neben einem neuen Zuschauerrekord, dem TTIP-Leak als Paukenschlag und mehreren eindrücklichen Plädoyers gegen Hate-Speeches gab es natürlich jede Menge Netzpolitik (von Sascha Lobo bis Günther Oettinger), aber auch zum ersten Mal einen eigenen Programmteil für Kunst.
Im erstmals durchgängig geöffneten „labore:tory” konnten BesucherInnen künstlerische Inhalte kennenlernen, selbst erstellen und rezipieren. Am Dienstag lag zudem der Fokus der Talks im „labore:tory” auf den sogenannten ‚Immersive Arts‛. Open-Mic-Pitches zu entsprechenden Projekten fanden neben Diskussionen über Storytelling, rechtliche Fragen und ‚immersiven Journalismus‛ statt. Das Programm der ‚Immersive Arts‛ auf der re:publica wurde in Zusammenarbeit mit dem Performing Arts Programm Berlin (PAP) realisiert. Außerdem kooperierte die re:publica mit dem Ersten Deutschen Fachverband für Virtual Reality (EDFVR).
Aber was ist eigentlich diese ‚immersive Kunst‛, die momentan in aller Munde ist? Die re:publica selbst erklärt ihren Besuchern ‚Immersion‛ als die Möglichkeit, „in die Künste einzutauchen, sich ihnen hinzugeben und ein Teil davon zu werden“. Realisiert wurden diese Ansätze unter anderem als „konkret partizipatorische Aktionen und ganze Environments, die auf dem Veranstaltungsgelände aufgebaut sind“.
Immersion funktioniert allerdings auch ohne digitale Technik – zum Beispiel in der Literatur. Dort versteht man unter ‚Immersion‛ das mentale Eintauchen in eine Geschichte. Je spannender eine Handlung, desto mehr kann sich ein Leser beispielsweise in die Textwelt begeben und seine eigene Wirklichkeit vergessen. Immersion kann also sowohl das Eintauchen des Konsumenten in eine virtuelle oder fiktive Welt als auch das Heraustreten des medial Dargestellten aus der Fiktion in die Realität des Lesers bzw. Spielers oder Zuschauers umfassen. Sie tritt zudem sowohl in aktiver als auch in eher passiver Form auf. Ausschlaggebend ist dabei, wie stark ein Medium die Interaktion mit dem Betrachter ermöglicht. Eine der vielversprechendsten Formen immersiver Kunst ist aktuell das digital gestützte Erstellen und Erleben virtueller Welten. Mit Hilfe von 360-Grad-Projektionen, VR-Brillen und Software zur Bewegungserkennung können virtuelle Welten in 3D betreten und sogar mit ihnen interagiert werden. In solchen Virtual-Reality-Umgebungen ist durch die aktive Interaktion die Immersion besonders hoch.
Ein paar ‚immersive‛ Highlights von der re:publica TEN:
- Einen guten Überblick über die verschiedenen Themen und Diskussionen rund um die ‚Immersive Arts‛ bietet das Abschlussgespräch zum Schwerpunkttag Fish Bowl: Immersive Arts. Vertreter der (digitalen) Kunst- und Kulturbranche diskutieren die Chancen und Grenzen der immersiven Künste. Mit dabei sind unter anderem Carla Streckwall vom virtuellen Museum Refrakt und der Journalist und Start-up-Gründer Marcus Bösch.
- Warum Theater und virtuelle Realität zusammengehören? Björn Lengers vom VR-Theaterprojekt RäuVR weiß es. In seiner Keynote erklärt er, wie er gemeinsam mit Marcel Karnapke (Multimedia Designer) und Wojtek Klemm (Regisseur) Schillers „Die Räuber“ als virtuelles Reality-Theaterstück inszeniert. Die Theaterszenen werden dabei in 3D aufgenommen, sodass sich der Zuschauer später mit Hilfe einer VR-Brille ‚in der Szene‛ frei bewegen kann.
- Kultur- & Kunstvermittlung mit neuen Technolgien – wie geht das? Kulturelle und künstlerische Inhalte mit Hilfe neuester Technik spannend und ansprechend zu präsentieren, ist das Ziel vieler Kultureinrichtungen. Drei Beispiele, wie diese Vision umgesetzt werden kann, kommen von Alexander Govoni vom virtuellen Museum Refrakt, von Carolin Clausitzer von ArtOnYourScreen (AOYS), der Online-Ausstellungsplattform des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, sowie von Clarissa Hoehener. Sie hat die bux App – Literatur im Raum erleben mit initiiert. Mit dem Autor als virtuellem Führer können literarische Werke geografisch erkundet werden.
- Was wir sehen sollten, erklärt Gabriel Lifton-Zoline in seinem Vortrag What you need to see! – Immersive Storytelling. Er ist Manager des Medienunternehmens und Filmstudios RYOT, das immersiven Journalismus in Form von 360-Grad-Videos realisiert. Welche anderen Möglichkeiten es gibt, den Zuschauer zum Teil der Story zu machen und ihn im besten Fall zum politischen Handeln zu aktivieren, verrät er ebenfalls in seiner Keynote.
- Drei weitere Projekte aus dem Feld der immersiven Künste stellen sich im Talk Immerse! new Narratives, new Technologies vor. Der Fokus liegt hier vor allem auf den unterschiedlichen Erzähltechniken. Mit dabei sind Dominik Stockhausen, der den VR-Kurzfilm „SONAR“ mitproduziert hat, Johan Knattrup Jensen vom dänischen VR-Kunst-Kollektiv MAKROPOL und Christopher De La Garza, Mitschöpfer des multimedialen Comic-Universums „Hemispheres“.
- Für alle, deren Neugier an dieser Stelle noch nicht gestillt ist, hier ein Blick in die Zukunft: In der Dokumentation „DISCONNECTED – A 48 hour VR Trip“ erprobt ein Filmteam im Selbstversuch, was in einigen Jahren vielleicht Alltag sein könnte: zwei volle Tage in der virtuellen Realität. Traum oder Albtraum?
Das Spielfeld zwischen ‚Virtual Reality‛ und immersiven Künsten wird uns in den kommenden Jahren wohl noch beschäftigen. Immerhin könnte sich die neue Technik bald von Computerspielen, über Marketing-Abteilungen und weltweite Chatkommunikation bis hin zur Kunst ausbreiten. Auch wenn die Annäherungsversuche der Literatur bisher noch recht schüchtern sind, darf man sicher auch als LiteraturfreundIn und vor allem als LiebhaberIn gut erzählter Geschichten auf die weiteren Entwicklungen gespannt sein.
Von Kristina Petzold