Fundstück: „Hass“ von Şeyda Kurt

Nachdem 2021 ihr erstes Buch Radikale Zärtlichkeit erschien, widmet sich Şeyda Kurt nun in einem gleichnamigen Essay dem Hass. Was auf den ersten Blick wie eine programmatische Kehrtwende aussieht, liest sich vielmehr wie ein Nachtrag zum Konzept der radikalen Zärtlichkeit. Ausgehend von der Frage, ob „wir auch Nazis gegenüber zärtlich sein müssen“ – die Antwort ist nein – nähert sich Şeyda Kurt dem Gefühl, das gar nicht sein darf. Politiker:innen, Vertreter:innen der Kirche oder Schriftsteller:innen mahnen regelmäßig, Hass dürfe nicht mit Hass beantwortet werden. Şeyda Kurt trotzt diesen Mahnungen. Sie nimmt ihre metaphorischen Ausstechförmchen zur Hand und beginnt, den Hass, diesen unförmigen Klumpen Plätzchenteig, in greifbare Formen zu zerteilen.

Hass als Strategie

„Hass“ wirft auf wenigen Seiten viele Fragen auf. (Bild: Luca Gerke)

Einen besonderen Platz auf dem Backblech hat Şeyda Kurt dem strategischen Hass reserviert. Diese „treibende Kraft für ein gemeinschaftliches Streben nach Veränderung“ ist der Hass, mit dem marginalisierte Personen auf der ganzen Welt ihren Unterdrücker:innen die Stirn bieten. Kurt zeichnet eindrucksvolle Porträts dieser Unterdrückten, unter anderem der kurdischen Widerstandskämpferin Sakine Cansız oder Luisa Toledo Sepúlveda, die ihr Leben lang Proteste gegen Pinochets Militärdiktatur in Chile entfachte. Diese Schnappschüsse verwebt Kurt mit autobiographischen Einschüben und Fragmenten aus Maxim Gorkis Drei Menschen zu einem Geflecht des Hasses. Dieses Geflecht wuchert jedoch nicht wie ein Geschwür des Hasses unkontrolliert und zerstörerisch. Es gedeiht zielgerichtet und getrieben von der Hoffnung auf eine Welt ohne kapitalistische, rassistische oder patriarchale Unterdrückung.

Şeyda Kurts Essay löst Wut und Optimismus zugleich aus. Wut auf unterdrückerische Systeme; Optimismus, dass wir diese überwinden können, wenn wir unseren Hass kanalisieren. Hass ist nicht nur widerständig, sondern auch widersprüchlich. Auf den gut 200 Seiten werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Hass ist ein Anstoß, eine Ermutigung mithilfe des verbotenen Gefühls Utopien zu bauen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert