„Extrem lebendige Literatur“. Ein Gespräch mit Simone Winko und Matthias Beilein

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Längst sind die Phänomene der Digitalisierung auch in der Literaturwissenschaft angekommen. Das  DFG-Graduiertenkolleg „Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung“ der Universität Göttingen unterstützt DoktorandInnen, die aus unterschiedlichsten Blickwinkeln zu diesem Feld arbeiten. Digitur hat die Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Simone Winko (Sprecherin) und Dr. Matthias Beilein (Koordination) zum Interview getroffen.

Digitur: Was war der ausschlaggebende Punkt zum Thema Literatur und Digitalität zu arbeiten?

Simone Winko: Mein Einstieg in dieses Thema war mein Interesse für Literatur im Netz. Ein weiterer Punkt ist, dass wir in der Wissenschaft auch alle zunehmend mit digitalen Medien arbeiten, um Informationen zu generieren.

Matthias Beilein: Mein Schwerpunkt liegt in der Gegenwartsliteratur und im Literaturbetrieb und das war auch meine Anknüpfstelle – also, nicht so sehr aus der digitalen Richtung, sondern aus Richtung der Literatur.

D: Seit Oktober 2013 gibt es das DFG Graduiertenkolleg „Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung“, das Sie betreuen. Was sind Ausgangspunkt und Forschungsziele des Kollegs?

SW: Die Beobachtung, dass die Digitalisierung eines der wichtigsten, entscheidendsten und revolutionärsten Phänomene der Gegenwart ist, war der Hauptausgangspunkt für das Projekt. Mit der zunehmenden Digitalisierung verändert sich sehr viel in der Kultur und vor allen Dingen in der Wissenschaft. Das versucht das Kolleg unter einer literaturwissenschaftlichen Fragestellung zusammenzubringen.

MB: Digitalisierung ist dasjenige, das den Literaturbetrieb in den letzten 20 Jahren maßgeblich geprägt hat. Es gibt kaum noch Bücher, die nicht digital hergestellt werden. Zudem gibt es neue Phänomene in Literaturbetrieb und -vermittlung, die erst durch Digitalisierung entstanden sind wie Blogs, Facebook- und Autorenseiten.

SW: Es geht nicht nur darum, dass wir den Phänomenbereich ‚Digitalisierung‘ wissenschaftlich erforschen, sondern auch unseren Kollegiaten die Möglichkeit geben, Praxiserfahrung zu machen. Bei unsere Partnerinstitutionen, Verlagen, Literaturhäusern und Archiven, können sie Techniken und Veränderungen durch Digitalisierung beobachten.

D: Gibt es Phänomene der Digitalisierung, die Sie besonders beeindrucken?

MB: Was mich fasziniert, sind bestimmte Interaktionen, die früher nicht möglich gewesen wären. Und das über Kontinente hinweg in Echtzeit. Neulich saß ich zum Beispiel in einer Konferenz, bei der sich auf einmal jemand aus London über Twitter zuschaltete. Das sind Phänomene, die ich faszinierend finde, weil sie etwas neues produzieren, etwas sinnvolles, weil man sich plötzlich in einem Netzwerk von Leuten findet, die man persönlich nicht kennt, von denen man aber lernen und profitieren kann.

SW: Ich finde vor allem die literarischen Hyperfictions und die breite Kommunikation über Literatur im Netz spannend. Das, was früher in der Kneipe oder beim Kaffeekränzchen stattgefunden hat, passiert nun öffentlich über Entfernungen und Zeiten hinweg. Daran kann man sehen, dass Literatur nicht nur Sache von Experten, sondern extrem lebendig ist. Außerdem interessieren mich kollaborative Schreibprozesse, die wir als Literaturwissenschaftler bisher kaum zu Kenntnis genommen haben, die aber enorm viel Kreativität beinhalten.

D: Warum ist ein Thema wie das des Essener Workshops „Nach dem geistigen Eigentum?“, in dem es vor allem um Fragen des Urheber- und Immaterialgüterrechts im Bezug auf Literatur gehen wird, auch für Ihre Arbeit im Graduiertenkolleg interessant?

MB: Für uns als Literaturwissenschaftler sind diese juristischen Fragen schon alleine deshalb interessant, weil wir täglich damit umgehen müssen, davon aber im Grunde keine Ahnung haben. Ich gebe ein Seminar, stelle dafür einen gescannten Text ins Netz und begehe damit eine Urheberrechtsverletzung, ohne dass ich es weiß. Es gibt so viele Grenzfälle im Kontext mit Plagiaten. Die Dissertationen diverser Politiker, die als Plagiate entlarvt oder diffamiert worden sind, haben vor Augen geführt, dass Urheberrechtsfragen ein Aspekt sind, der unglaublich eng mit Digitalisierung zusammenhängt. Jedem, der sich in irgendeiner Weise mit digitalen Medien beschäftigt, ist dieser Aspekt ständig präsent – ob er es weiß oder nicht.

SW: Außerdem gibt es ja mit der Appropriationsliteratur, bei der man einen Text von einem anderen Autor nimmt und in einen neuen Kontext stellt, sogar eine eigene Kunstform, die massive juristische Aspekte mit sich bringt. Es ist eigentlich ein Plagiat, aber ist es das wirklich? Diese Fragen müssen uns als Wissenschaftler, aber auch als literarisch und ästhetisch Interessierte beschäftigen.

Katharina Graef

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