In der letzten Woche wurde auf Twitter mehr als 19.000 mal über #TwitterFiction getweeted. Grund dafür war ein in seiner Form einzigartiges Literaturfestival, das Leser, Autoren, Verlage und Interessierte aus aller Welt zusammenführte, um die kürzeste literarische Form unserer Zeit zu zelebrieren: Tweets. Während das #TwitterFiction Festival in den USA überwiegend positive Resonanz in den Medien findet und renommierte Autoren anlockt, scheint in Deutschland ein eher kritisches Meinungsbild zur Veranstaltung und der entstehenden Twitteratur vorzuherrschen.
Die kurze Geschichte des Festivals der kurzen Geschichten
2012 fand das erste #Twitterfiction Festival, eine virtuelle Veranstaltung für digitale Literatur in Form von englischsprachigen Mikro-Stories, statt. Eine Jury bestehend aus Vertretern der amerikanischen Verlagsbranche wählte aus allen Einreichungen offizielle Teilnehmer aus, die besonders hervorgehoben wurden. Aber nicht nur AutorenInnen, sondern jede/r mit einem Twitter-Account wurde aufgefordert zu partizipieren. 2014 schlossen sich die Association of American Publishers und Penguin Random House zusammen und hoben das Event auf die nächste Ebene. Alexander McCall-Smith, Anthony Marra, Megan Abbott sowie 22 weitere preisgekrönte, #1 New York Times Bestseller AutorenInnen und ihre Twitter-Erstveröffentlichungen standen im Fokus des Events. Außerdem konnten weitere SchriftstellerInnen vorab Ihre Ideen bei den Veranstaltern einreichen und sich so auf einen Platz als offizieller AutorIn des Festivals bewerben. Trotz des gehobenen Anspruchs behielt die Veranstaltung ihren offenen Charakter bei und forderte auch das gesamte Twitterverse auf, Geschichten unter dem Hashtag „TwitterFiction“ zu teilen. Die elf besten Mikro-Stories 2014 und interessante Einblicke in die Herangehensweise der Autoren wurden von Lara Prescott auf Buzzfeed zusammengefasst.
Vom 11. Bis zum 15. Mai ging das #Twitterfiction Festival in diesem Jahr in die dritte Runde und brillierte erneut mit großen Namen des amerikanischen Literaturbetriebs. Patrick Rothfuss kreierte mit Hilfe seiner Follower eine Geschichte im Stil von Interactive Fiction, Margret Atwood verwob Schnipsel aus Filmtrailern für ihre Flugzeug Mikro-Story und Chuck Wendig verlieh dem Internet ein Bewusstsein, eine Stimme und einen Twitter-Account. Wie man an diesen kreativen Beispielen sieht, kann Twitteratur einfach eine Geschichte sein, die in 140 Zeichen Häppchen veröffentlicht wird oder auch die multimediale und kollaborative Funktionalität Twitters nutzen und somit die Grenzen der klassischen Erzählweise zu überschreiten. Einen Überblick über die verschiedenen Akteure und ihre Geschichten kann man sich direkt auf Twitter, der offizielle Seite des #TwitterFiction Festivals oder auch dem Storify-Artikel von SRF Kultur verschaffen.
Ist Twitteratur Literatur?
Kann bei einem Tweet überhaupt die Rede von Literatur sein? Die Digitur-Redakteurinnen Sabrina Jaehn und Kristina Petzold haben sich schon 2013 mit dem Thema Twitteratur auseinandergesetzt und Autorin/Bloggerin Anousch Mueller und Literaturwissenschaftler Dr. Thomas Ernst dazu befragt.
Das Online-Feuilleton der FAZ berichtete über das diesjährige #TwitterFiction Festival und stellte den Mehrwert der Mikro-Stories in Frage. Obwohl der Artikel den experimentellen Charakter der Veranstaltung hervorhebt, fällt er mit seiner abschließenden Kritik, dass die Mehrheit der Beiträge „es niemals durch ein Verlagshaus schaffen würde“, in die traditionellen Normen des Literaturbetriebs zurück, die diese Veranstaltung zu durchbrechen sucht: Was ist Literatur und welche Werke sind literarisch wertvoll? Gerade die Länge, oder besser gesagt die Kürze von Twitteratur scheint sie zu dequalifizieren, aber auch die Vorstellung, dass über Twitter „Jedermann“ zum Autor wird, schlägt schwer auf. Die Veröffentlichung in einem Verlag ist immer noch ein Hauptkriterium für Literatur und Autorschaft. Doch ist dieses „Gütesiegel“ zukunftsfähig oder entwickelt es sich langsam aber sicher zu einem Totschlagargument? Wenn man die Twittertrends der Woche betrachtet, sollte man eine mögliche Etablierung von Twitteratur positiv sehen. Neben #DSDS und #WeWant1DDayAgain würde mehr Literatur dem Medium und seinen Nutzern sicherlich nicht schaden.
Lisa-Marie Reingruber