Literatur ist für Tanja Kollodzieyski fast wie ein Körpertausch, sagt sie. Nur eben geistig. Natürlich könnte sie als angehende Literaturwissenschaftlerin auch viele hochtrabende Begriffe nutzen, um auf die Frage zu antworten. Aber für sie ist es eben genau das: die Möglichkeit, eine andere Sicht auf Dinge einzunehmen. Was das Internet für Tanja bedeutet, ist noch schneller zu beantworten: Freiheit.
In ihrem Blog schreibt die 27-Jährige als bibliophiles Rollstuhlfräulein. Über das Leben und über Literatur. Was ihre Beiträge eint: Sie haben alle einen thematischen Bezug zu verschiedenen Handicaps. Nur allzu politisch sollen Tanjas Beiträge nicht sein: „Das mit der Politik überlasse ich lieber denjenigen, die sich besser damit auskennen. Ich sehe mich eher als Handicap-Lifestyle-Bloggerin. Und zu meinem Lifestyle gehören eben vor allem Bücher.“
E-Books empfindet Tanja da als große Bereicherung, da die Handhabung für sie viel leichter ist: „Ich muss nicht immer zum Regal gehen und ein Buch holen oder mir sogar Hilfe suchen, weil es zu hoch steht“, erklärt sie. „Scheinbar einfache Dinge wie Blättern oder Festhalten können für mich durchaus schwierig sein und die fallen so weg.“ Dennoch möchte Tanja auch die Papierliteratur nicht missen: „Für mich sind das einfach zwei verschiedene Arten eines Mediums, die beide ihre Vor- und Nachteile haben, aber locker nebeneinander existieren können.“
Als richtige Bloggerin sieht Tanja sich erst seit ungefähr einem Jahr. Da hat sie aufgehört, nur für sich zu schreiben und angefangen darüber nachzudenken, was ihre Leser interessieren könnte. Schon als Teenager hat Tanja eine Art Tagebuch im Internet geführt. Damals hat sie noch in Clausthal-Zellerfeld gelebt. Einem kleinen Dorf im Harz. Und schon damals war ihr klar, dass sie irgendwann in eine größere Stadt ziehen möchte. Ein Kulturangebot war dort kaum vorhanden. In Clausthal-Zellerfeld gibt es kein Kino. Eine Theateraufführung findet einmal im Jahr statt.
Zudem ist die Gegend nicht barrierefrei. Es gibt viele Berge und demnach überall Stufen. Tanja konnte dort kaum einen Laden selbstständig betreten. Rückblickend sagt sie: „Wenn du anders bist, ist das Leben auf dem Dorf sehr schwierig. In der Stadt, wo viele Menschen sind, da fällt das nicht so auf.“
Ihr Ziele waren also klar: Sie wollte in eine Großstadt und sie wollte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studieren. So kam sie nach Bochum. Dort studiert sie inzwischen im Master Komparatistik und Germanistik. Völlig barrierefrei ist es hier auch nicht, aber Tanja findet die Menschen im Ruhrgebiet toleranter.
Momentan entsteht im Netz eine Art Subkultur von Handicap-Bloggern, „allerdings stecken wir alle noch in den Babyschuhen“, erzählt Tanja. In ihrem Blog beschäftigt sie sich vor allem mit Literatur rund um das Thema Behinderung. Was sie sich für die Zukunft der Literatur wünscht? „Dass es in den nächsten Jahren viele behinderte Protagonisten gibt, die cool, dumm,… oder auch totale Arschlöcher sind. Sie können alles sein, nur bitte keine vor sich hin leidenden Wesen, die man nur bedauern kann.“ Ihr aktueller Literaturtipp: „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“ von Raul Krauthausen.
Dass im Internet die Grenzen zwischen Menschen mit und ohne Handicap verschwinden können, glaubt Tanja nur bedingt. Dennoch möchte sie genau daran arbeiten: „Ich zeige, dass sich Menschen mit Behinderung zum Beispiel Gedanken über die Farbe ihres Rollstuhls machen, so wie andere über die Farbe ihres Autos. Das mögen vielleicht unwesentliche Dinge sein, es sind aber die Dinge, die uns menschlich machen und aus diesem Neutrum der Behinderung herausholen“. Tanjas Arbeit findet Anklang. Ihre Leser bilden genau die Mischung aus Menschen mit und ohne Handicap, die sie sich wünscht. Und sie bekommt viele Reaktionen von Menschen, die sie als Vorbild wahrnehmen. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass sie irgendwann von ihrer Aufklärungsarbeit leben kann und dass sie anderen Menschen Mut machen kann, auch etwas zu wagen.
Darum geht es auch ganz besonders in Tanjas größtem Literaturprojekt: einem Reiseführer. Im Sommer hat sie an einem Gewinnspiel teilgenommen und zwei Tickets für eine Interrailreise gewonnen: „Danach war ich ziemlich überfordert mit der Planung, weil man unglaublich viel beachten muss, wenn man im Rollstuhl verreist. Ich habe dann gegoogelt, um herauszufinden, ob es Menschen gibt, die das schon mal gemacht haben. Leider habe ich nur sehr wenig gefunden.“ Die Entscheidung war schnell gefällt: Tanja würde ihren eigenen Reiseführer für RollstuhlfahrerInnen schreiben.
Knapp drei Wochen ist sie mit ihrem Freund und zwei Assistenten von Bochum nach Paris, Cannes, Barcelona, Nizza und Senigallia gereist. Nur Portugal musste Tanja von der Liste streichen. Die portugiesische Bahngesellschaft hatte ihr mitgeteilt, dass die Bahn von Spanien nach Portugal nicht rollstuhltauglich sei und es auch keinen Service gebe. Bei Tanja wirft das die Frage auf, „ob es da keine Rollstuhlfahrer gibt… Schade. Ich hätte gerne echtes Portugiesisch gehört.“
Die Reise war dennoch ein Erfolg. Nun schreibt Tanja an ihrem Reiseführer und sucht zugleich nach einem passenden Verlag. Sie würde das Buch gerne als E-Book, aber auch in Druckform veröffentlichen. Doch die Verlage sind nicht leicht zu überzeugen. Dass Tanja aber so oder so eine Lösung finden wird, dessen ist sie sich sicher.
Kyra Palberg