Studieren in Polen – (fast) analog. Ein Selbstversuch

Mit Block und Kugelschreiber ist man an der Danziger Uni schon gut ausgestattet. Foto: Vanessa Hellwig CC0

Paulina schreibt und schreibt. Seite für Seite füllt sie ihren Collegeblock mit der heutigen Präsentation, wie immer mit dem blauen Kugelschreiber. Sie ist schnell geworden mit dem Schreiben, denn sie befindet sich mittlerweile im letzten Bachelor-Semester ihres Germanistikstudiums. Ihre Handschrift ist schön, so ordentlich und ein bisschen verschnörkelt, und manchmal frage ich mich, ob ich auch so schön schreiben könnte, wenn ich so viel Übung darin hätte. Denn was die angehenden Germanistikabsolventen an der Danziger Uni jeden Tag unfreiwillig üben ist, unter anderem, die Handschrift. Möglich macht es die wenig vorhandene Digitalisierung, die aus einem Studium in der polnischen Ostseestadt wieder richtige Handarbeit macht. An das (fast) analoge Studieren musste ich mich während meines Auslandssemesters in der Ostseestadt erst wieder gewöhnen.

„Ich werde Grundschullehrerin. Da ist es sowieso wichtig eine schöne, leserliche Handschrift zu haben“, erzählt Paulina und versteht meine Verwunderung über das viele Abschreiben vielleicht nicht ganz. Für sie und ihre KommilitonInnen ist es normal alles mitzuschreiben, anstatt sich Präsentationen runterzuladen. In manchen Fächern geht das ganz gut, weil die Dozentin erst dann die nächste Folie an die Wand wirft, wenn alle fertig sind mit Abschreiben. In Deutschland unvorstellbar. So sind wir es doch gewohnt, die Folien herunterzuladen oder das Essay digital per Mail an unsere Dozierenden zu schicken und auch digital korrigiert zurückzubekommen. Oder die Lektüre, die wir zur nächsten Sitzung vorbereiten sollen und uns dank den digitalen Semesterapparaten einfach Zuhause runterladen. So sehr haben wir uns mittlerweile an die Digitalisierung unserer Lernumgebung gewöhnt (obwohl die auch für uns kurz auf der Kippe stand). Andere Länder, andere Sitten. Das war mir vorher bewusst und doch hat es mich überrascht, dass sich das Studium in Polen viel weniger vor dem eigenen Laptop abspielt als in Deutschland.

Digitalisieren nur mit Erlaubnis

Klaudia hat es allerdings satt, all die übervollen Folien abzuschreiben und in dem Tempo, das die Dozentin vorgibt, ist das sowieso fast unmöglich. Deswegen macht sie mehr oder weniger heimlich Fotos von der Präsentation mit ihrem Smartphone. „Das habe ich Ihnen aber nicht erlaubt“, ärgert sich die Dozentin als sie das herausfindet. Also entschuldigt sich Klaudia und nimmt wieder ihren Kugelschreiber zur Hand. Nicht, ohne mich vorher mit hochgezogenen Augenbrauen anzuschauen.

Nach dem Unterricht gehen wir noch schnell am Schwarzen Brett der Germanistik vorbei, um zu schauen, ob morgen vielleicht ein Seminar ausfällt. Es erinnert mich an den Vertretungsplan in meinem alten Gymnasium. Ist das nicht schon eine Weile her? Während wir an der Uni Duisburg-Essen per Mail die freudige Nachricht eines Kursausfalls empfangen, lesen wir sie hier in Danzig ganz analog, frisch von Hand geschrieben und an die Wand gepinnt. Angeblich gäbe es auch die Möglichkeit, diese Information auf der Homepage der Uni zu bekommen. Mit eher begrenzten Polnischkenntnissen ist das für mich eher schwierig. Vielleicht mag es auch Dozierende geben, die ihre Abwesenheit per E-Mail kommunizieren, aber Erasmusstudenten sind da meistens außen vor.

Wer suchet, der findet: Alternativen zu Lernplattformen

Neben den Präsentationen können wir Studentinnen und Studenten in Deutschland auch die Literatur zur Vorbereitung für die nächste Sitzung herunterladen. Auch das geht in Polen nicht so einfach, denn der Luxus von digitalen Semesterapparaten ist hier unbekannt. Stattdessen geht man als Student je nach Bedarf zu Ksero, einem kleinen Copyshop in der Uni, um das Material zu bekommen. Dort hinterlegen die Dozierenden eine Art Reader, der alle paar Wochen mit neuem Material gefüllt wird. So muss jeder Studierende regelmäßig dort hin, um alle Texte zu erhalten. Manchmal teilen die DozentInnen auch Kopien aus, aber nur eine pro drei Personen. Denn sie dürfen offiziell in jedem Semester nur 100 Stück machen. Deswegen teilen wir uns die Zettel und fotografieren ihn (heimlich) ab, falls wir zuhause nochmal draufschauen wollen. Manchmal erledigt das auch ein Student für alle und dann wird diese Fotografie in das E-Mail-Postfach eines Gratisanbieters hochgeladen. Der ganze Jahrgang bekommt dann einen Zugang dazu, indem sich alle den gleichen Benutzernamen und das Passwort teilen. Sehr ungewohnt für jemanden, der einen Privatzugang von Moodle gewohnt ist. Aber es funktioniert, bis jetzt wurde der Account wohl noch nie missbraucht. Da passen alle ein bisschen auf. Manchmal ist er schließlich auch die letzte Möglichkeit, den begehrten Zettel noch zu bekommen. Denn Kopieren und an die Kommilitonen weiterreichen ist mit dem Aufwand verbunden, in ein anderes Gebäude zu gehen. An der Neofilologia, an der ich studiere, gibt es nämlich keine Kopierer. „Das ist eine Regel von der EU“, erklärt mir Klaudia. „Die haben uns Geld für dieses Gebäude zur Verfügung gestellt und eine der Auflagen dafür ist, dass wir hier drin kein Geld einnehmen dürfen“. Also keine Kopierer, kein Kaffee, keine belegten Brötchen in diesem Gebäude. Kein Wunder, dass die Schlange am nächstgelegenen Kiosk in jeder Pause ziemlich lang ist.

Analoge Bereicherung

Überrascht hat mich zum Schluss die Aussage einer deutschen Freundin, die ich in Danzig kennengelernt habe. Veronika schreibt nämlich derzeit an einer Hausarbeit. „Am liebsten schreibe ich mir den Text dafür grob handschriftlich vor“, erzählt die 22-jährige Lehramtsstudentin, die in Zukunft Unterricht in Polnisch und Geschichte geben möchte, „da kann ich viel besser drin rumstreichen und Stellen überarbeiten“. Das Geschriebene dann in ein digitales Textverarbeitungsprogramm zu übertragen sei zwar lästig, „aber mit Blatt und Kulli in der Hand kann ich meine Gedanken viel besser strukturieren“.

Mein halbes Jahr in Polen ist, so gesehen, ein wenig „back to the roots“ gewesen – Studieren, wie es früher war. Hinter dem Material herrennen und für alles ein wenig länger brauchen, als ich es aus Deutschland gewohnt bin. Am Ende funktioniert es allerdings mindestens genau so gut wie unser digitalisiertes System an der Uni Duisburg-Essen. Was ich am Anfang etwas lästig fand, wurde zur Gewohnheit und durch den Zwang, das Tempo generell ein wenig reduzieren zu müssen, sehe ich das Studium jetzt ein bisschen entspannter. Vielleicht sollte ich den regelmäßigen Gang zum Copyshop auch in Deutschland als feste Pause für den kurzen Spaziergang an der frischen Luft in meinen Lernplan einschieben.

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