Sind Metadaten poetisch? – Marion Schwehr im Interview

Marion Schwehr

Marion Schwehr, Foto: Viola Schütz

Neue Dinge ausprobieren, Experimente machen, Innovation fördern – hier ist Marion Schwehr ganz in ihrem Element. Dabei ist es ihr besonders wichtig, verschiedene Disziplinen zu bedienen und auf diese Weise über den eigenen Horizont hinaus zu blicken:

Die Fähigkeit Verbindungen herzustellen, anzuknüpfen und assoziativ zu denken, wird für die Zukunft von Unternehmen wie für uns als Gesellschaft die entscheidende Fähigkeit sein.” (Marion Schwehr)

Die Literaturwissenschaftlerin und Wortakrobatin studierte Literaturwissenschaften, Philosophie und VWL und arbeitete anschließend über 10 Jahre bei einem großen Wirtschaftsunternehmen in dem Bereich Innovation und neue Entwicklungen. 2011 kam der Entschluss, von nun an eigene Ideen umzusetzen. Sie gründete einen Verlag (euryclia GmbH) mit einem Internetgeschäftsmodell und veröffentlichte in diesem das per Crowdfunding finanzierte Buch „Universalcode“. Dafür erhielt sie den allerersten Virenschleuderpreis (der Preis für ansteckendes Marketing aus Kultur und Medien).

Die Erkenntnisse aus ihren künstlerischen und experimentellen Projekten zum Thema Innovation und digitaler Wandel präsentiert sie heute Unternehmen oder Kulturinstitutionen in ihren Vorträgen und möchte dadurch zu neuem Denken anregen. Auch auf der Electric Book Fair 2016 hielt sie eine Lesung zum Thema: Sind Daten poetisch?

Ihr Vortrag auf der EBF handelt von Metadaten und wieso diese poetisch seien. Wie sind Sie auf Metadaten gekommen?

Ehrlich gesagt kam der Vortrag zu mir. Nikola Richter, eine der Kuratorinnen der Electric Book Fair, hat mich angeschrieben, ob ich Interesse hätte, genau dieses Thema zu machen. Ich habe ein ähnliches Projekt im Haus der Kunst gemacht: Da habe ich aus Tweets wieder Texte erarbeitet. Sie hatte sich etwas in der Richtung vorgestellt.

Ich spreche eigentlich ganz oft zum Thema Daten – das Thema Metadaten ist heutzutage ein ganz spannendes, weil diese eine besondere Eigenschaft haben: Sie sind das Mittel schlechthin, um Verbindungen herzustellen. Verbindungen zwischen Dingen, zwischen denen vielleicht gar keine Verbindung war. Im engeren Sinne, also innerhalb des klassischen Verschlagworten von Texten, ist es die Verbindung zwischen Text und Leser, die hergestellt werden muss. Metadaten sind heutzutage deshalb so interessant, weil die Arbeit mit diesem Kit oder Klebstoff in allen möglichen Bereichen stattfindet. Amazon zum Beispiel nutzt Metadaten, auch um Bücher und Leser zu verbinden, aber noch viel mehr im Vordergrund steht es, Leser mit Lesern zu verbinden. Das ist der Grund, warum Metadaten aktuell so einen wahnsinnigen Hype haben und alle darüber sprechen.

Auf Ihrem Blog schreiben Sie, dass es im digitalen Zeitalter wichtig sei, ein Dilettant zu sein. Was verstehen Sie darunter und warum ist es so wichtig?

Das ist mein absolutes Lieblingsthema. Das Wort kommt aus dem Italienischen „Diletare“ = sich erfreuen. Ein Dilettant ist jemand, dem sehr wohl bewusst ist, dass er sich in ein Feld begibt, in dem er sich nicht gut auskennt, aber dennoch Freude daran hat, zu fragen und forschen und daran, Dinge auszuprobieren. Dabei ist er immer in dem Bewusstsein, dass das, was entsteht, nicht perfekt wird. Aber es geht darum, etwas auszuprobieren – und zwar nicht, weil man muss, also ohne diesen Innovationsdruck, der über uns allen hängt – sondern tatsächlich, weil man Spaß dran hat. Dieser Ansatz kann viel Druck nehmen und ist sehr fruchtbar, weil wir in unserer digitalen Welt alle Anfänger sind. Schließlich gibt es niemanden, der unsere Situation – diesen massiven digitalen Wandel, den Wandel einer ganzen Gesellschaft – schon so durchlebt hätte. Im Digitalen müssen wir alle viel mehr Experimente machen. Da finde ich eine Herangehensweise des Dilettanten wunderbar, weil man nicht aus einer Angst heraus handelt, etwas zu verpassen oder aus dem Druck heraus, Innovationen auf die Beine stellen zu müssen, sondern tatsächlich aus der Freude heraus: „Ich will verstehen, was da gerade um mich herum und mit mir passiert, deshalb mache ich mich auf den Weg in dieses neue Feld, in dieses Digitale und probiere Dinge aus.”

Es ist Ihnen also wichtig, neue Felder zu bedienen und auch Felder miteinander zu vernetzen, bei denen man nicht denkt, dass diese miteinander zu tun haben. Was wären da Beispiele für?

Ich habe vor einiger Zeit für SAP einen interessanten Vortrag gehalten. Das war eine gewagte Mischung. Das Thema war eigentlich, wie man aus Daten interessante Geschichten entwickeln kann; also was steckt in Daten drin und wie kann man mit Daten arbeiten, um interessante Geschichten herauszuarbeiten. Das Themenfeld ist eigentlich fest in der Hand der Mathematiker. Meine Idee war zu sagen, es gibt eine Disziplin, die arbeitet seit Jahrhunderten mit Unmengen an Material und erarbeitet spannende Geschichten heraus: die Literatur. Ich habe drei literarische Verfahren genommen und diese auf das Beispiel Daten angewandt. Das hört sich theoretisch an und vielleicht sogar abstrus. Auch meine Zuhörer haben sich im ersten Moment gewundert: Wir arbeiten jetzt mit literarischen Verfahren, um Daten zu bearbeiten? Ich habe das Ganze auch an Fußballdaten gezeigt. Da kommen drei Dinge zusammen, die bei genauem Hinsehen nicht zusammen gehören. Aber wenn man diesen Versuch unternimmt und erstmal die Hemmschwelle übersteht, dass es erstmal wie Nonsens ausschaut, dann können interessante Ergebnisse dabei raus kommen.

Aber ein Vortrag ist ein Experiment: Man weiß nicht genau, steigen die Leute darauf ein, haben sie Lust darauf, sich auf ein neues Denken einzulassen. Ich fand die Reaktionen darauf sehr interessant. Zum einen haben sich die Leute sehr für die literarischen Beispiele begeistert. Das Thema war „Konflikte“, es gibt kein bedeutendes Werk der Weltliteratur, das ohne einen Konflikt auskommen würde. Es ist immer die große Konstruktion eines Konfliktes und dann, wie wird er überwunden. Da habe ich als Beispiel den Oblomow von Iwan Gontscharow genommen und wie dieser junge Mann jeden Tag damit kämpft ob er überhaupt aus dem Bett aufsteht und wie er dieses wahnsinnige Potential, das er eigentlich hat, nutzen möchte. Ich fand es so interessant, dass danach Leute auf mich zu kamen, die bestimmt nicht wahnsinnig viel lesen, aber nachgefragt haben und viel über das Buch wissen wollten und die Geschichten verstehen wollten. Als zweites Beispiel hatte ich die Hertha Müller mit ihren Schnipselbüchern, die tatsächlich Dinge zusammensetzt. Auch da hat mir im Nachgang eine Zuhörerin geschrieben, sie hat sich das jetzt gekauft und bei sich im Büro an den Schreibtisch gestellt. Das finde ich wunderbar, dass man in diesem engen Businesskontext tatsächlich über Literatur sprechen kann und die Leute zurückmelden, dass das wertvoll ist und einen Mehrwert bietet.

Nach meinem Verständnis gibt es eine Hierarchie der Disziplinen. Es gibt Fachgebiete, die sehr anerkannt sind, weil sie direkten Output liefern, wie die Naturwissenschaften – und dann gibt es das Schöngeistige: die Kunst, Literatur, Philosophie auch die Psychologie. Zwischen Medizin und Psychologie wäre eigentlich gar nicht so viel dazwischen, aber es herrscht dennoch eine ganz andere Wertigkeit. Diese Hierarchie der Disziplinen ist schade und weder zeitgemäß noch zielführend. Gerade wenn es um neues Denken geht, sind diese anderen Bereiche viel Wert, weil es eine Möglichkeit ist, neue Ideen zu sammeln und Dinge in Zusammenhänge zu bringen, die eigentlich ganz unterschiedliche Blickwinkel haben. Ich arbeite in meinen Vorträgen daran, diese Sicht zu verändern. Schließlich ist es nicht ökonomisch, Ressourcen, die da sind, außen vor zu lassen.

Sie haben schon viele Projekte umgesetzt. Worauf sind Sie besonders stolz?

Kaum hat man eins gemacht, denkt man sich schon, jetzt muss ich an das nächste ran. Aber was mich schon im Tun am meisten mit beeindruckt hat, war die Sache mit dem Haus der Kunst. Da habe ich ein Tweet-Up gemacht von einer Ausstellung, die es gar nicht gibt. Normalerweise funktioniert der Tweet-Up so, dass eine Führung durch das Museum stattfindet und diese von Twitterern begleitet wird. Das ist eigentlich eher ein Marketingevent. Meine Idee war, das Ganze ohne Ausstellung zu machen. Das Haus der Kunst hatte uns einen leeren Raum zur Verfügung gestellt und die Teilnehmenden hatten mitgeteilt, über welche Bilder sie twittern werden. Es gab einen professionellen Guide, der in diesem leeren Raum zu Bildern, die wir nicht gesehen haben eine professionelle Führung gemacht hat. Die Teilnehmenden haben mir nachher gesagt, es kam ein Flow zustande. Genau das war der Hintergrund. Ich wollte, dass wir in einem Museum mal nicht abstrakte Kunst anschauen, sondern Abstraktion tatsächlich praktizieren. Dabei sind über tausend Tweets entstanden. Die habe ich gesammelt und wieder zu einem Text arrangiert, den ich auf ein Plakat gedruckt habe. Auf diese Weise wurde aus dem, was wir da gemacht haben, tatsächlich wieder ein Bild. Was mich daran stolz macht ist die Tatsache, dass es ein Experiment war und ich nicht wusste, ob es funktioniert und auch nur annähernd das bei rauskommt, was ich mir erhofft habe oder ob auch noch andere Leute, nicht nur ich selbst, etwas damit anfangen können. Hinsichtlich all dieser Punkte war es einfach ein Volltreffer.

Ein Interview von Johanna Böhnke und Aileen Singhof

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