„Kunst ist keine Demokratie“ – Social Reading und das Literaturexperiment #fraugitarre

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Gesprächsrunde über das Social Reading-Projekt #fraugitarre. Bild: CC BY-SA Simone Theilmann

Im Orbanism Space fand am ersten Tag der Frankfurter Buchmesse die Veranstaltung »Betreutes Lesen«. Social Reading von Clemens J. Setz‘ »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« – Das Literaturexperiment #fraugitarre statt. Wie wird gegenwärtig und künftig im Netz über Literatur gesprochen? Ausgehend von dieser Frage diskutierten Clemens J. Setz, Guido Graf, Jan Drees, Christoph Kappes und Daniel Acksteiner auf der Bühne des Orbanism Space über das Projekt Frau und Gitarre. Ein Blog für Betreutes Lesen und über den Einfluss von Social Media und Social Reading auf die Produktion und Distribution von Literatur.

Clemens Setz hat dem sozialen Netzwerk Facebook den Rücken gekehrt, nachdem er sich dort mit Morddrohungen konfrontiert sah. Er weiß um die Risiken, aber auch um den Reiz der sozialen Netzwerke. Insbesondere für Schriftsteller versprächen sie eine Aufhebung der mit dem Beruf einhergehenden Einsamkeit und Isolation. Für ihn wurde diese Nutzung, so Setz, zur Sucht, die ihm nicht gut tat. Dennoch ist er weiterhin an der Interaktion im Netz bzw. am digitalen Gespräch über Literatur interessiert. Das zeigt u.a. das  Social Reading-Projekt zu seinem aktuellen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, der in diesem Jahr für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert war.

Das Literaturexperiment #fraugitarre

Das Buch-Blog Frau und Gitarre. Ein Blog für Betreutes Lesen widmet sich allein dem Buch von Clemens Setz und versteht sich als Literaturexperiment. Seit dem 14. September bloggen rund 40 Personen aus unterschiedlichen Bereichen  („Autorinnen und Blogger, Literaturkritikerinnen, Wissenschaftler, Studentinnen und Literaturvermittler“) für insgesamt 100 Tage über den Roman. „Das passiert in einer Reihe von Artikeln, die sich direkt am Buch entlanghangeln, aber ansonsten inhaltlich, stilistisch und formal völlig frei sind. Ein Video ist ebenso gut wie eine klassische Rezension, Dichtung so gut wie Kegeln.“ Darüber hinaus ist die rege Beteiligung aller LeserInnen des Blogs und des Romans ausdrücklich erwünscht. Das Verfassen von Blog-Artikeln ist (nach einem kurzen Bewerbungsschreiben) ebenso möglich, wie die gängige Nutzung der Kommentarfunktion auf dem Blog. Das dem Blog Eigentümliche ist jedoch die von Sobooks zur Verfügung gestellte Zitatfunktion. Die in die Blog-Artikel eingebundenen Buchzitate führen einen, einmal angeklickt, direkt in den Roman bzw. genau an die Stelle, von der das Zitat stammt. Dort kann jeder (mit einem kostenlosen Sobooks-Account) im Buch mitdiskutieren.

Der Einfluss von Social Reading

Auf der Bühne des Orbanism Space ging es im Kern der Diskussion um den Einfluss Sozialer Netzwerke und Social Reading auf die Literaturproduktion und -distribution. Inwiefern verändert sich das Schreiben? Welchen Einfluss haben Leser-Kommentare auf den Text? Ist Social Reading für die Literaturkritik relevant? Inwieweit hat sich die Verlagsarbeit geändert und wie gehen Verlage mit den gesammelten Daten der Leser um? Natürlich ließ sich keine dieser Fragen in der Kürze der Zeit erschöpfend diskutieren, aber es wurden einige interessante Statements laut. Hier eine kleine Auswahl:

  • Christoph Kappes: „Verlage kommen nicht aus dem Quark“. Kappes räumt jedoch ein, dass es für die Verlage sehr schwierig sei, Social Media richtig zu nutzen. „Wir verändern ja auch das Produkt mit Social Media. Die Gefahr, dass wir hier industrielle Kulturproduktion machen, weil der Autor sich immer stärker an der Nachfrage orientiert, das hat positive Seiten, das Werk ist im Fluss, es entsteht eine gewisse Bindung, es sinken Vermaktungskosten, es hat aber auch gleichzeitig mit einer Veränderung von Autor und Werk zu tun.“
  • Daniel Acksteiner erklärt, dass sich bei Suhrkamp durch Social Media vor allem die interne Verlagskommunikation verändert habe.
  • Die Sozialen Netzwerke beeinflussen und verändern für Clemens Setz sein Schreiben: „Man hat immer das Gefühl, man sagt etwas nicht völlig allein.“
  • Setz: „Es gibt natürlich bei aller Freude am Kommentiertwerden auch die andere Seite, dass man ja eigentlich Feedback als Autor nicht immer ganz untoxisch empfindet.“ Insbesondere für Autoren, die gerade erst beginnen zu schreiben, könne Feedback lähmend sein. Besser sei es, sie erst einmal einfach machen zu lassen.“
  • Ein soziales Lektorat und publikumsorientierte Bücher wären für Setz fatal. „Wenn Autoren ihr Vorhandensein oder ihre Produktion austesten an der Gruppe, an der Schwarmintelligenz, ich glaube, dann wird alles, was bisher als Kunst oder Literatur gilt, ersetzt werden durch etwas anderes. Nicht tot sein, aber ersetzt werden. […] Kunst ist keine Demokratie.“
  • Jan Drees: „Social Reading ist natürlich für die Literaturkritik deshalb relevant, weil jeder mitmachen kann und man auf einmal als Kritiker nicht nur mit Leserbriefen konfrontiert ist, sondern jederzeit falsifiziert werden kann.“ Man sei sich über die Leser der Kritiken bewusster und könne nicht mehr so souverän auftreten, weil jeder in irgend etwas Spezialist sei, es also immer jemanden gibt, der in bestimmten Bereichen mehr Ahnung habe.

Die komplette Veranstaltung lässt sich als Podcast nachhören.

Katharina Lührmann

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