Dystopie aus der Petrischale – Eckhart Nickels Roman Hysteria

Die Himbeere als zentrales Motiv in Nickels Hysteria. Bild: CCO pixabay

Es beginnt harmlos: Sonderbar aussehende Himbeeren ziehen die Aufmerksamkeit des Protagonisten Bergheim auf sich. Ausgerechnet in der unscheinbaren heimischen Frucht sieht er mit Hilfe seiner bemerkenswerten Imagination unheilvolle Geschehnisse voraus.

Er sah grässliche Spinnenköpfe aus den Himbeeren herausspähen, das Wachstum des Fruchtfleisches, zuvor Beweis für die wunderbare Vermehrung der Natur, erschien ihm nun als gefährliches Wuchern, bösartige Fruchtzellen, die sich unentwegt teilten und der Welt feindlich entgegenwuchsen, um sie zu beherrschen und am Ende zu vernichten.

Nicht nur die Pflanzenwelt, sondern auch Tiere scheinen künstlich – doch nur Bergheim nimmt diesen geheimnisvollen und erschreckenden Umstand wahr. So offenbart Eckhart Nickel in seinem Roman Hysteria nach und nach ein dystopisches Szenario. Ohne es unmittelbar als ein solches zu entlarven, schleicht es auf leisen Sohlen in buchstäblich alle Sinne.

Als radikale Verfechter der Rückführung in den absoluten Naturzustand zählen die AktivistInnen des sogenannten „Spurenlosen Lebens“. Die Gruppierung beginnt als ein Studienexperiment, erhält allerdings nach kürzester Zeit erheblichen Zulauf aus aller Welt. Sie ist bereits in Bergheims Studienzeit wiederholt Thema. Wie weit die Fanatiker bereit sind zu gehen, muss er bei seinem Besuch bei der „Kooperative Sommerfrische“ und im „Kulinarischen Institut“ erfahren. Ihr Ziel: Die Rettung der Natur – nur um welchen Preis?

Der Roman wird auf zwei Ebenen erzählt: der erzählten Gegenwart, in der Bergheim nach Antworten im Kulinarischen Institut sucht und einer sehr detailreichen Vorgeschichte, die viele Jahre, vermutlich sogar Jahrzehnte vorher spielen soll. Diese unterbricht das Hauptgeschehen und verschafft in relativ kurzen, nicht chronologisch-erzählten Kapitel einen Gesamteindruck über die Figuren, aber auch über die alternative Realität im Roman, in der durch verschiedenste Regulierungen und Verbote versucht wird, die Gesellschaft wieder zur Natur zurückzuführen. Obwohl es interessant ist, die einzelnen Handlungsfragmente der Vorgeschichte schließlich zu einem Puzzle zusammenzusetzen, erscheint die Erzählung der Vergangenheit rund um Bergheim auf Dauer doch sehr langatmig.

Neben den zu Anfang erwähnten Himbeeren durchzieht ein Spiel mit Farben den Roman, sei es die ausgefallene Farbgestaltung im Kulinarischen Institut, der komplette Farbverlust eigener Gliedmaßen oder bunt schimmernde Käfer.

Als hätte die jahreszeitliche Verfärbung der Blätter an den Bäumen auch von den Tieren Besitz ergriffen und das bevorstehende Ableben bereits in ihre Erscheinung eingeschrieben.

Abgesehen von dem Sehsinn animiert die Geschichte auch Hör- und vor allem Geschmackssinne. Bis ins kleinste Detail werden Gesichtszüge, Laute, Gerüche und Geschmackserfahrungen beschrieben. Nickel schafft es zum Beispiel mit kulinarischen Ergüssen wie dem Carpaccio von der Nashi-Birne mit frischem Meerrettich oder der weißen Johannisbeer-Pannacotta mit Klarapfel-Kompott dem Leser das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen.

Zwar mögen Nicht-Biologen mit den vielen fachspezifischen Begriffen und Prozessen, die im Roman genannt werden, leicht überfordert sein; so scheint dieser Effekt zur Verfremdung vom Autor doch geradezu beabsichtigt. Vor allem aufgrund der sprachlichen Excellence, die Nickel an den Tag legt, und dem interessanten Aspekt des Öko-Totalitarismus, der im Roman thematisiert wird, ist es jedoch schade, dass das volle Potential auf reiner Handlungsebene nicht vollkommen ausgeschöpft wird: Das dystopische Szenario unterliegt auf Dauer zu sehr anderen Themen wie Liebe, Freundschaft, Rache aber auch alltäglichen Banalitäten. Lediglich gegen Ende des Romans nimmt das Kulinarische Institut radikale Züge eines Überwachungsstaats an. Die Abschlussszene des Romans erinnert im Übrigen an das Ende des Klassikers Soylent Green, ein Science-Fiction Film aus dem Jahr 1973. Der verzweifelte Bergheim tritt der Öffentlichkeit mit einer schockierenden Botschaft entgegen, bleibt aber ungehört. Der weitere Verlauf ist mehr als ungewiss …

Dennoch ist Hysteria, welches für den 2018er Deutschen Buchpreis nominiert wurde, aufgrund seiner Erzählstruktur und den eigenwilligen Beschreibungen sowie dem sonderbaren Bergheim als Protagonisten mit seiner ausgeprägten Beobachtungsfähigkeit, ein erfrischender Roman, dessen Anschaffung man sicher nicht bereut.

Julia Hübel & Marisa Müller

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