Digitalliteratur als eine neue Kunstform – Tina Giesler über ihr Projekt „Dembelo“

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Das Logo ist wie das Projekt noch eine Skizze.

Tina Giesler ruft zum Umdenken auf und folgt ihrem eigenen Aufruf gleich selbst. Dembelo heißt ihr aktuelles Projekt, mit dem sie die digitale Literatur neu bzw. überhaupt erst erfinden will. Denn die meisten eBooks sind für Giesler nicht mehr als „digitale Sicherheitskopien von Büchern“ und kein geeignetetes Format, Literatur ins Digitale zu überführen. Das war bereits Thema beim 10. Publishing-Stammtisch Pub’n’Pub POTT, wo sie über Fanfiction als vernetztes und damit digitales Publizieren bzw. Lesen sprach. Wo die Probleme der gegenwärtigen „Digitalliteratur“ liegen, wie eine neue Art digitaler Literatur aussieht und was sich hinter ihrem Projekt verbirgt, darüber haben wir mit Tina Giesler gesprochen.

Frau Giesler, was ist „Dembelo“?

Zuerst ist Dembelo eine Web-Plattform, die literarische Inhalte und Prozesse neu organisiert und ein Mikronetzwerk aus granulierten Textknoten, also literarisch speziell konstruierten Kurztexten, aufspannt, das völlig nativ mit den Strukturen des Internets interagiert. Doch sobald man die Darreichungsform von Text ändert, verändert sich auch die Art, diesen Text zu schreiben, zu lesen und zu vermarkten. In der Konsequenz ist Dembelo also auch ein Experiment, eine Machbarkeitsstudie, die verlegerische und künstlerische Motivationen mit den aktuellen technischen Mitteln des Internets umsetzt, um unter den Internetnutzern eine neue Leserschaft für literarische Inhalte zu erschließen. Dabei sollen innovative und typisch digitale Konzepte zum Einsatz kommen, wie die Vorfinanzierung von Autoren über Crowdfunding, marketingaktive Open-Content-Strukturen durch Creativ Commons-Lizenzierung der Texte und Micropayment über Dienste wie LaterPay.

Was hat es mit dem Namen des Projekts auf sich?

Das Internet sollte einen Namen für die literarische kleine Schwester aussuchen, und das hat es getan, über einen Wortgenerator. Aus technischer Sicht ist es ein sehr guter Name: keine Umlaute, nicht zu lang, nicht zu kurz, .de-, .com- und .org-Domain noch frei. Es gibt keine feststellbare Fehlbedeutung in anderen Sprachen, die Trefferquote bei Google ist gering, und der Hashtag ist noch frei. Und die Entstehung passte einfach zur Idee. Der Name ist nicht gezielt gewählt und trotzdem genau das Richtige: etwas nativ Digitales und eben keine schnöde Ableitung, vor die man ein „e“ gehängt hat.

Worin liegen die Probleme der gegenwärtigen Digitalliteratur? Warum braucht es einen Umsturz?

Das Hauptproblem ist, dass wir gar keine Digitalliteratur haben. Wir haben digitale Sicherheitskopien von Büchern. Aktuell konvertieren die meisten Druckvorlagen zu eBooks und vergleichen das mit dem Wechsel von der Schallplatte zur MP3. Dabei wurden Schallplatten nie zu MP3s konvertiert, hätte man das getan, wäre die Endqualität genauso grottig gewesen, wie sie es bei eBooks aktuell ist.

Wir ziehen einfach die falschen Vergleiche zu Musik und Film und konzentrieren uns dadurch auf die falschen Dinge.

Das Buch ist der Musik und dem Schauspiel Jahrtausende voraus. Die Kunstform hinter dem Buch ist die Erzählung, die einst mündlich stattfand und so an Ort und Zeit gebunden war, wie Musik und Schauspiel bis vor wenigen Jahrzehnten auch. Dann kam für alle drei ein Medienumbruch, sie wurden fixiert, von der zeitlichen und lokalen Begrenzung befreit. Die Erzählung machte diesen Schritt vor Jahrtausenden mit der Erfindung der Schrift. Musik und Schauspiel konnten erst vor kurzem durch die Ton- und Videoaufnahme folgen. Für alle drei war dieser Schritt ein gewaltiger Umbruch: Aus der Erzählung entwickelte sich Literatur, Musik entwickelte schlagartig ungezählte Variationen, aus dem Theater wurde Film. Alles, was danach kam, war nur noch Optimierung der fixierten Form. Die Erzählung – als darstellende Kunstform – ist aber gänzlich unabhängig von den Fixierungsprozessen am nächsten Entwicklungspunkt angekommen. Mit dem Internet verlässt die Erzählung nämlich die Linearität! Nur scheint das keiner der Literaturwissenschaftler und Verleger zu merken.

Bei der Digitalisierung geht es nicht um einen Formattyp, Digitalliteratur ist eine neue Kunstform!

Die Bewegung hin zu eInk und eBook optimiert nur die Fixierung – also das Buch, das Papier – weiter, aber da fehlt uns noch sehr viel Technik, bis sich ein Monitor so verhält wie eine Buchseite. Die Versuche, den Inhalt, den Text und die Vermittlungsart zu digitalisieren, also wirklich weiter zu gehen als nur zu einer anderen Form der Fixierung, sind extrem selten, oft unausgereift und marketingarm. Dembelo soll das ändern. Es soll Autoren und Lesern einen neuen Ansatz für Literatur geben, regelhaft und reproduzierbar, aber eben nicht linear, sondern interagierend und vernetzt. Dabei ist erst einmal egal, ob dieser Ansatz richtig ist, er soll einfach nur anders sein, um aufzuzeigen, an welchen Stellschrauben man bei der Digitalisierung tatsächlich drehen sollte.

Was zeichnet die neue Art der Literatur aus? Was sind ihre Vorteile im Vergleich zur Digitalliteratur, wie wir sie bislang kennen?

Ich fange beim zweiten Teil der Frage an und frage zurück: Was sind denn die Vorteile eines Computerspiels gegenüber einem Film? Beides sind Unterhaltungsmedien, beide arbeiten mit ähnlichen Mitteln. Man kann sie durchaus vergleichen, aber was man nun als Vorteil bezeichnet, ist doch nur eine Sache des Geschmacks. Demeblo ist keine Weiterentwicklung des eBooks oder des Buches. Ich lege keinen Wert darauf, dass Menschen das Buch zugunsten von Dembelo weglegen. Meine Zielgruppe sind die Leute, die tendenziell keine Bücher lesen, und für die soll der Vorteil schlichtweg in der Zugänglichkeit liegen.
Ein Roman, egal ob auf Papier oder als eBook, stellt bestimmte Ansprüche an seinen Leser, verlangt bestimmte Ausgangsbedingungen: Denkweisen, Zeitmanagement, allgemein eine bestimmte Lebensorganisation. Die digitale Gesellschaft weicht von diesen Voraussetzungen immer weiter ab – wir leben z.B. in deutlich kürzeren Zeiteinteilungen – und aktuell bedeutet das, dass man sich auch von literarischen Inhalten entfernt. Es wird sehr viel gelesen, aber eher Blogs, Twitter, Facebook, Nachrichten, Artikel, immer und überall, aber nur ein bisschen. Das Schlagwort heißt Granulierung. Literatur tut sich damit schwer, daher fällt sie immer weiter aus dem Leseverhalten heraus, was aber nicht daran liegt, dass die Menschen keine Literatur lesen möchten, ihnen fehlt lediglich ein geeigneter Zugang.

Dembeloliteratur ist granuliert, unmittelbar, interaktiv, vernetzt, spontan und kostengünstig, all das, was das gekapselte eBook eben nicht ist.

Dembelo orientiert sich in der Darreichungsform an genau dieser Art zu lesen, verfolgt aber kulturelle Ziele und verlagstypische Qualitätsansprüche. Es ist kein User-generated Content, es ist Literatur: von einem Künstler durchdacht, von einem Lektor überarbeitet und von einem Verlag arrangiert, aber so aufbereitet, dass man es auf einem Handy, in der Straßenbahn, zwischen Twitter und WhatsApp konsumieren kann.

Auf welchem Stand ist „Dembelo“ aktuell? Wohin soll es mit dem Projekt noch gehen?

Stand der Dinge ist, dass es einen Plan gibt. Was angesichts der Tatsache, dass Dembelo etwas völlig Neues ist und aus dem Nichts heraus entwickelt und konzipiert wurde, schon ziemlich viel ist. Der Plan umfasst drei Baustellen, die von ihren Anforderungen und entsprechend ihrem Fortschritt sehr unterschiedlich sind.

  1. Die Technik. Die ist recht unproblematisch. Für die Web-Plattform wurde eine sehr professionelle Entwicklungsumgebung mit modernen Frameworks aufgesetzt, mit Testabdeckung und allem Schnickschnack, der Entwicklerherzen höher schlagen lässt. Der Prototyp geht dabei gut voran, auch wenn wir uns sehr über Hilfe freuen würden.
  2. Die Inhaltsbeschaffung. Ich sage gerne, dass ich eine Plattform baue, um Literatur, die es noch nicht gibt, an Leute zu verkaufen, die keine Bücher lesen. Das ist aber natürlich nicht ganz richtig. Das System soll zeitnah mit Pilotprojekten aus der Genreliteratur befüllt werden. Für die erste Geschichte aus der Ecke Fantasy wurde jetzt im Unperfekthaus Essen ein Kunstprojekt gegründet. Der Gedanke dabei ist, das Schreiben zur Performance zu machen und so ganz neue Formen der Inspiration, aber auch des Marketings zu nutzen.
  3. Die Präsentation des Gesamtkonzepts. Das ist die größte Baustelle. Da hängen unendlich viele andere Konzepte dran. Das Verwertungsrecht zum Beispiel, Qualitätssicherung, Lizenzierung, Monetarisierung. Durch Dembelo wird die gesamte Buchszene uminterpretiert, denn man muss für alles, was in einer Schreibstube, einem Verlag, einer Buchhandlung und einem Lesesessel passiert, eine technische Entsprechung finden, die mit dem restlichen System interagiert, und dann muss das Ganze auch noch Internet-nativ sein. Seit April führe ich die Diskussion mit vielen Branchenleuten, darunter Christiane Frohmann vom Frohmann-Verlag, Christoph Kappes von Sobooks und Valie Djordjevic von iRights.

Dank Orbanism werde ich Dembelo auf der Frankfurter Buchmesse kurz vorstellen, und ich hoffe darauf, eine Session beim eBookCamp in Hamburg machen zu können. Eine geschlossene Beta soll dann Mitte November starten. Was dann kommt werden wir sehen. Es ist ja ein Experiment. Als erfolgreich würde ich es ansehen, wenn ich eine Verbreitung von 100.000 Lesern erreiche und ein paar Verlage dazu bekomme, Autoren für Dembelo fest einzustellen. Aber eigentlich ist das System so schlank und flexibel, dass auch eine weltweite Verbreitung möglich ist. Ich gehe da sehr pragmatisch vor, ich nehme, was ich kriegen kann, und schaue, wohin es mich führt. Und wenn das Projekt schon in der Beta-Phase scheitert, dann haben wir trotzdem etwas daraus gelernt.

Herzlichen Dank!

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