Cyberpoesie: Die Verbindung von Lyrik und Digitalisierung

Um digitale Poesie betreiben zu können, muss man auch Informatikkenntnisse haben. Bild: CCO pixabay

Wer schreibt, geht unweigerlich auch mit der Zeit. So verwundert es nicht, dass sich Dichter im Zeitalter der Digitalisierung die neuen technischen Möglichkeiten zunutze machen, um im lyrischen Bereich mit Sprache zu experimentieren. Das Ergebnis ist visuelle Poesie. Ein Genre, welches den Titel Cyberpoesie, digitale Poesie oder e-poetry trägt und noch relativ unerforscht ist. 

Möchte man ein Werk der Cyberpoesie vortragen oder ausdrucken, so stellt man sofort fest, dass einem dies nicht gelingen wird. Denn mit der digitalen Poesie wird ein ganz neues Feld von ästhetischer Kommunikation eröffnet. Mithilfe von Computer und Internet erschaffen Künstler neue Werke, indem sie sich mit Sprache im digitalen Medium auseinandersetzen. Wird beispielsweise in der Epik ein bestimmter Inhalt vermittelt, steht bei der Cyberpoesie der Umgang mit Sprache im Vordergrund. Sprache wird zu einem Material, mit dem sich neue Darstellungsformen von Botschaften ergeben. Das Medium Computer, aber auch die dazugehörende Technik wie das Internet, reflektieren sich bei der digitalen Poesie selbst. Ohne den Computer als Medium ist diese Form von Poesie nicht möglich. Es bedarf nicht nur Programmierungen und Codes, sondern auch Animation und Vernetzung, um digitale Sprachkunst auszuüben. Deutlich wird also: Bestimmte Vorkenntnisse im Bereich der Informatik sind notwendig, um so etwas zu entwerfen.

Wichtige Erkenntnisse erlangte besonders die Stuttgarter Gruppe. Die Stuttgarter Gruppe – man hört in diesem Zusammenhang auch häufig den Begriff der Stuttgarter Schule – ist ein Zusammenschluss von Liebhabern der experimentellen Kunst. Die Vereinigung, der unter anderem Max Bense, Franz Mon, Ernst Jandl und Reinhard Döhl angehören, beschäftigt sich mit der Vielfalt der experimentellen Literaturpräsentation. Daher kommt es vor, dass Umsetzungen dieser Literaturwissenschaftler verwendet und digital weiterentwickelt werden. So digitalisiert Johannes Auer Reinhard Döhls Textgraphik „Apfel“ und erweckt unter dem Titel „worm applepie for döhl“ den Wurm zum Leben, indem er ihn sich langsam gestalterisch durch den Apfel fressen lässt. Die Erkenntnis, dass es sich dabei um einen Wurm handeln muss, ist mit der Assoziation der verschwindenden Zeichen verbunden. Der Leser wird aufgrund des kinetischen Effekts, den Auer mit dem Auflösen und Einsetzen der Buchstaben schafft, automatisch zur Interpretation angeregt. Interessant ist dabei: Den Wurm hat es in Döhls Text nie gegeben. Ein weiteres Beispiel für ein flash poem (ein in Bewegung versetztes Gedicht) ist das Gedicht „Staub“ von Manfred Arens. Nach und nach fallen Buchstaben und Punkte vom Bildschirm, erst ganz am Ende ist der vollständige Text aus Genesis 3,19 zu lesen. Arens wählt diese Performance aufgrund des semantischen Gehalts der Textstelle, die besagt, dass am Ende alles wieder zu Staub zerfällt.

Wie lässt sich dieses literarische Phänomen noch steigern? Durch Lautpoesie. Der Kanadier Jim Andrews kam auf die Idee, flash poems noch Geräusche und Töne hinzuzufügen. Ein interaktives Erlebnis schafft er in seinem bekannten Gedicht „Nio“. Durch Anklicken eines Zeichens wird dem Leser ein bestimmter Ton abgespielt. Klickt dieser also auf mehrere Zeichen hintereinander, entsteht zusätzlich zu dem Herunterpurzeln der Buchstaben ein Tonteppich, der ganz individuell zusammengestellt worden ist. Die traditionelle Poesie, wie wir sie kennen, bekommt im Zuge der Digitalisierung mit den flash poems und der sound poetry völlig neue Komponenten.

Bei der Cyberpoesie ist der Mensch nicht mehr der alleinige Schaffer eines Werkes. Der Computer als Maschine verhilft ihm stattdessen, seine Pläne und Vorstellungen von einer ästhetischen Vermittlung umzusetzen. Mit dem Cybernetic Poet hat der Autor und Futurist Ray(mond) Kurzweil in den 1980er Jahren eine Software entwickelt, die eigenständig Gedichte schreibt. Die einzige Voraussetzung ist, dass der Computer vorher poetische Werke verschiedener AutorInnen „liest“. Kurzweil ermöglicht auf diese Weise ganz neue Arten, Sprachsynthese zu betreiben. Dass der Director of Engineering von Google sich gut mit dem Zusammenhang von Maschine und Sprache auskennt, beweist der größte persönliche Erfolg seiner Karriere: Ray Kurzweil war es, der die „Kurzweil Reading Machine“, die Lesemaschine der Sehbehinderten für die Blindenschrift von Braille, erfand.

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